Nachdem hier bereits an verschiedener Stelle über die Reihe diskutiert bzw. Bände daraus vorgestellt wurden auch ein eigener Thread. Verdient hat es sich die Phantastische Bibliothek allemal, ist sie doch – abgesehen von Heftromanserien – die mit Abstand umfangreichste Phantastik-Reihe im deutschsprachigen Raum. Ein kleiner virtueller Reiseführer durch den rosa-lila-schwarzen Blätterdschungel.
Hintergrund
Die 1970er und 80er Jahre waren die goldene Ära der phantastischen Literatur am deutschsprachigen Buchmarkt. So gut wie alle größeren Verlage führten eigene Phantastik- und/oder Science Fiction-Programme. So kam man selbst im Hause Suhrkamp, ansonsten Hort des distinguiert-elitären Literaturgeschmacks, nicht umhin, seine Fühler nach der neuen Zielgruppe auszustrecken. Glücklicherweise konnte man auf die Expertise des Tochterverlags Insel und des Lektors Werner Berthel bauen. So war die Phantastische Bibliothek eigentlich die Fortführung der beiden Schwesterreihen Bibliothek des Hauses Usher (Kalju Kirde, 1969-1975) und Phantastische Wirklichkeit – Science Fiction der Welt (Franz Rottensteiner, 1971-1975) von Insel. Bei Suhrkamp erschienen zunächst ein paar Nachdrucke von H. P. Lovecraft und Stanislaw Lem als Taschenbücher. Ab 1978 mit dem Titelzusatz „Phantastische Bibliothek“ und ab 1980 dann mit Nummerierung. Da Berthel zu dieser Zeit als Cheflektor zu Fischer wechselte, schlug er Franz Rottensteiner als Betreuer der Reihe vor, da es im Haus niemanden mit profunden Kenntnissen auf diesem Gebiet gab.
Inhalt
Die Reihe umfasst ein denkbar breites Spektrum. Der Phantastik-Begriff wurde weit ausgelegt und berücksichtigt auch die Science Fiction mit. Von der Ratio bis in die finstersten Winkel der menschlichen Psyche ist alles vertreten, was Autoren zu inspirieren vermag. Zeitlich pflügte man quer durch die Literaturgeschichte. Von 1771 bis in die Gegenwart. Der Schwerpunkt lag aber am 20. Jahrhundert. Franz Rottensteiner vertrat einen internationalen Ansatz und versuchte, das durch die Dominanz der Anglosphäre verengte Blickfeld zu erweitern. So finden sich in der Phantastischen Bibliothek Autoren aus aller Herren Länder. Bis auf Afrika dürfte jeder Kontinent mehrfach vertreten sein. Manchen Ländern oder Regionen wurden gar eigene Sammelbände gewidmet. Anthologien waren überhaupt ein immanenter Teil des Programms. Beginnend mit „Blick vom anderen Ufer“- Rottensteiners Überblick über Science Fiction abseits der englischsprachigen Autoren – beinhaltet die Phantastische Bibliothek unzählige Sammlungen.
Die vertretene Autorenschaft recht von Klassikern bis zu Zeitgenössischem. Teils lizensiert, teils Erstveröffentlichungen. Insbesondere (jungen) deutschsprachigen Schriftstellern - z. B. Barbara Neuwirth, Ady Henry Kiss, Michael Hammerschmitt, Matthias Robold - bot man gerne eine Plattform.
Neben der Prosa machte man sich um die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung verdient. Zu einer Zeit, als die Phantastik vom akademischen Betrieb noch rigoros gemieden wurde. Rein A. Zondergeld betreute "Phaïcon, einen mehrbändigen Almanach zur Phantastik, Rottensteiner kümmerte sich parallel mit dem Pendent "Polaris" um die Science Fiction. Dazu gab es noch kritische Einzelwerke. Etwa Darko Suvins „Poetik der Science Fiction“, Martin Roda Bechers „An der Grenze des Staunens?“ oder Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“.
Umfang
Die Reihe brachte es auf 360 Bände. Wobei es sich nicht wirklich um 360 verschiedene Werke handelt. Mitunter erfuhren Bücher eine Neuausgabe mit neuer Nummer samt neuem Erscheinungsbild und sind demnach doppelt vertreten (siehe Cordwainer Smiths „Herren im All“, #93 und dann #180). Weiters wurden Lovecrafts längere Erzählungen später als eigenständige Titel neu aufgelegt. #360 ist eine wunderschöne, auf 1999 Stück limitierte Kassette, die alle drei Romane von Ady Henry Kiss samt einer Soundtrack-CD enthält.
Am liebsten verlegte man Lem (41), dahinter folgen Lovecraft (30), Herbert W. Franke (23), die Brüder Strugatzki (22) und J. G. Ballard (16).
Aufmachung
Zunächst erschienen
die Bänder in der charakteristischen rosa
Umschlagfärbung, später gesellte sich auch Lila dazu, ehe dann am Ende Schwarz
dominiert. Die Umschlagsillustrationen stammten anfangs von Thomas Franke,
später von Tom Breuer. Daneben griff man auch auf die Umschlagsmotive von Helmut Wenske bzw. Ute und Hans Ulrich Osterwalder aus den
beiden Insel-Reihen zurück. Allerdings nicht für die entsprechenden
Taschenbuchausgaben der Hardcover, sondern für ganz andere Titel. Ausnahme:
August Derleths „Auf Cthulhus Spur“. Hier wurde tatsächlich das alte Motiv
erneut auf’s Cover gedruckt.
Die Typografie orientiert sich am typischen Satz der Suhrkamp-Taschenbücher dieser Zeit. Außer bei manchen Titel, die man aus den beiden Insel-Reihen übernommen hat. Hier wurde mitunter die Schriftart der Erstausgaben wiederverwendet.
C. A. Smith von links nach rechts: „Die Saat aus dem Grabe“ Insel, „Die Saat aus dem Grabe“ Suhrkamp und „Medusa“.
Die Auflage betrug ursprünglich 10.000 bis 15.000. Am Ende nur mehr 5000. Nur wenige Bände erreichten mehrere Auflagen. Einzelne Titel von Lem oder Lovecraft allerdings weit über 100.000 Stück.
Vermächtnis
Unverzichtbar ist die Phantastische Bibliothek schon alleine
deswegen, weil die meisten Titel seither nicht mehr aufgelegt wurden und wohl
auch so bald nicht mehr erscheinen werden. Will man Lao Shes bitterböse
Dystopie „Die Stadt der Katzen“, die Erzählungen von Abe Kōbō oder Mircea Eliades
Vampirroman „Fräulein Christine“ auf Deutsch lesen, muss man sich die Suhrkamp-Bände
suchen.
Obwohl seit 20 Jahren offiziell eingestellt, lebt sie in gewisser Weise doch bis heute fort. Einzelne Titel von Lem, Lovecraft und den Strugatzkis hat der Verlag bis heute im Programm. Auch wenn die Aufmachung den modernen Suhrkamp-Taschenbüchern entspricht, ist der Satz dennoch der alte. So findet man bei den aktuellen Auflagen immer noch den Titelzusatz
Phantastische Bibliothek
Band ...