Einleitung
Man könnte trefflich darüber streiten, ob nun die Bibliothek des Hauses Usher oder die Bibliotheca Dracula als Initialzündung für anspruchsvolle Phantastik am deutschsprachigen Buchmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg anzusehen ist. Sicher, einzelne Veröffentlichungen gab es auch schon in den Jahren vor 1969 und bei Heyne bereits eine kleine Riege an Themen-Anthologien und Erzählbänden. Darunter eine erste Sammlung von H. P. Lovecraft. Allerdings in billiger Aufmachung und im Falle von Lovecraft schlampig übersetzt. Mit den eingangs erwähnten Reihen startete hingegen der Versuch einer ernsthaften Auseinandersetzung - in Inhalt und Aufmachung - mit dieser Art von Literatur, die weit über die wenigen kanonisierten Klassiker hinausging.
Für den Insel-Verlag bildete das ein Jahr zuvor erschienen Cthulhu ein erstes Herantasten an die Thematik. Ein Erzählband mit einer Auswahl an Geschichten aus dem titelgebenden Mythos, Initiiert und übersetzt von Lovecraft-Fan H. C. Artmann. Der wollte dem Vernehmen nach auf dem Gebiet noch weitermachen. Daraus wurde dann aber offensichtlich nichts. Die Resonanz von Cthulhu dürfte jedenfalls gut genug gewesen sein, so dass Verlagsmitarbeiter Armin Abmeier die Verantwortlichen davon überzeugen konnte, eine entsprechende Reihe zu starten. Als Betreuer brachte er seinen Freund Kalju Kirde ins Spiel. Dieser gab 1966 mit seinem dreiteiligen Aufsatz Bemerkungen über Weird Fiction in Franz Rottensteiners Quarber Merkur (#8-10) eine eindrucksvolle Eignungsprobe ab. Kirde, Jahrgang 1923, arbeitete eigentlich hauptberuflich als Physiker am Max-Planck-Institut in Göttingen und verschlang seit Kindheitstagen begierig phantastische Literatur. Er entdeckte Lovecraft bereits vor (!) dem Krieg in Estland (!). Auf welchen Wegen die alten Arkham House-Ausgaben oder Weird Tales-Hefte damals ins Baltikum gelangten, wäre wahrscheinlich eine eigene Story wert. Mit der Bibliothek des Hauses Usher bekam er die Möglichkeit, einige in seinem Artikel behandelte Autoren erstmals auf Deutsch zu veröffentlichen.
Inhalt
Schaut man sich die publizierten Bücher an, muss man fast zwangsläufig davon ausgehen, dass sich Insel und Hanser bei der Gestaltung ihrer Programme abgesprochen und den Markt untereinander aufgeteilt haben. Während Michael Krüger und Dieter Sturm den Fokus auf frühere Phantastik, insbesondere Gothic Novels und Schauerromantik legten, brachte Kirde vorwiegend spätere, englischsprachige Autoren. Mit Ausnahme von E. A. Poe, Joseph Sheridan Le Fanu und Ambrose Bierce allesamt Vertreter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nur der Pole Stefan Grabinski sowie die beiden Belgier Jean Ray und Thomas Owen rüttelten ein bisserl an der Dominanz der Anglosphäre.
Zentraler Bezugspunkt war eindeutig Lovecraft, dessen Freundeskreis (C.A. Smith und August Derleth) und explizite Vorbilder (etwa Lord Dunsany, Arthur Machen oder Algernon Blackwood) ausgiebig berücksichtigt wurden. Sein Supernatural Horror in Literature dürfte für Kirde eine nicht unwesentliche Orientierungshilfe bei der Zusammenstellung gewesen sein. Seine Auswahl repräsentiert verschiedene Spielarten der unheimlichen Phantastik bis hin zur frühen Fantasy. Mal ungemein subtil auf leisen Sohlen (Walter de la Mare), mal als ungelenkes Pastiche (Derleth) begegnet den Lesern das Grauen in vertrauten Motiven oder der moderneren Variante einer völlig entkoppelten, vermeintlich vertrauten Wirklichkeit (Owen).
Bevorzugte Textformen waren eindeutig Kurzgeschichte und Novelle. Selbst wo Kirde mit Der Fall Charles Dexter Ward, Malpertuis und Auf Cthulhus Spur Romane herausbrachte, waren diese entweder eher kurz gehalten oder aus einzelnen Episoden zusammengeschustert. Kein Vergleich zu den Schwarten aus der Bibliotheca Dracula.
Den Büchern erläuternde Nachworte anzuhängen, setzte sich im Gegensatz zur Konkurrenz erst gegen Ende der Reihe durch.
Erscheinungsbild
Die Aufmachung trug einiges zur Legendenbildung bei. Die Bücher erschienen nämlich als schicke Hardcovers mit surrealistischen Umschlagsentwürfen von Ute und Hans Ulrich Osterwalder, die eigens für die Reihe kreiert wurden. Zudem betonen das vergleichsweise schmale Format und insbesondere das sattgrüne Papier die exzentrische Ästhetik. Letzteres hat den Test der Zeit jedoch leider nicht immer gut überstanden. Ein paar meiner Exemplare, obwohl allgemein in schön erhaltenem Zustand, wirken ausgeblichen und lassen den einst kräftigen Farbton nur mehr erahnen. Im Laufe der Produktion ging den Herstellern das grüne Papier aus, so dass die letzten drei Bände auf herkömmlichem, weißem Papier gedruckt werden mussten. Mitunter taucht auch eine broschierte Produktionsvariante einzelner Titel auf. Quasi Taschenbücher in ähnlichem Format. Ob die für den regulären Verkauf gedacht waren oder als Rezensionsexemplare verschickt wurden, lässt sich leider nicht mehr sagen.
Die Auflage betrug 6.000 Stück und bewegte sich damit ungefähr im von Artmanns Cthulhu abgesteckten Rahmen. Damit dürfte der damalige Interessentenkreis auch recht gut abgedeckt worden sein. Denn einzig der zweite Band, Lovecrafts Das Ding auf der Schwelle, erfuhr eine weitere Auflage mit 2.000 Exemplaren.
Nachwirkung
Die Reihe brachte es immerhin auf 26 Bände und machte verschiedene heute als Klassiker geltende Autoren erstmals deutschsprachigen Lesern zugänglich. Aus diesem und aufgrund der bibliophilen Aufmachung gelten die Bücher heute als begehrte Sammlerstücke und werden entsprechend teuer gehandelt. Sie lassen sich deshalb im versierten (Online)Handel kaum mehr zu günstigen Preisen erwerben. Man muss schon auf Glückstreffer bei Flohmärkten hoffen. Abhilfe verschafft zynisch betrachtet sicher die demographische Entwicklung. Jene, die die Bücher seinerzeit bei Erscheinen gekauft haben, kommen langsam ins heikle Alter. Allein in Wien tauchten die letzten zwei Jahre drei Sammlungen (zwei davon komplett!) im Antiquariat und auf Flohmärkten auf.
Ungeduldige Interessierte könnten ich derweil an die Phantastische Bibliothek Suhrkamp halten, in der alle Titel teils mehrfach als Taschenbuch nachgedruckt wurden und im Falle von Lovecraft bis heute Teil des Verlagskatalogs geblieben sind. An der Phantastischen Bibliothek lässt sich außerdem gut ablesen, wie Kirde mit seiner eigenen Reihe weitergemacht hätte. Für Suhrkamp gab er neben zusätzlichen Sammlungen von Lovecraft, Blackwood, Jean Ray und C. A. Smith, Auswahlbände von Dino Buzzati, Erckmann-Chatrian, Henry S. Whitehead oder die wunderbare Anthologie Das unsichtbare Auge heraus.