"Es gibt kaum ein Ding im Volksaberglauben, das nicht auf irgendeine alte, verloren gegangene Erkenntnis hinweist, mag sie uns in Märchen, Sagen und Überlieferungen auch noch so missdeutet, unverstanden und entstellt entgegentreten."
Werner Bergengruen:
Das Gesetz des Atum
Drei Masken Verlag, 1923, 301 Seiten
Sindbad-Bücher – Phantastische und abenteuerliche Romane versprachen in den frühen 1920ern nicht weniger als die „große Welt des Wunderbaren“. Zwischen 1921 und 1925 erschienen in dieser Reihe vom Münchner Drei Masken Verlag elf Titel, die eine inhaltlich recht breite Palette repräsentierten. Klassiker von Edgar Allan Poe (Arthur Gordon Pym) oder Robert Louis Stevenson (Die Schatzinsel) genauso wie Zeitgenössisches aus dem In- und Ausland. Darunter auch Werner Bergengruens Debüt Das Gesetz des Atum, das zwei Jahre zuvor als Fortsetzungsroman in der Frankfurter Zeitung gedruckt wurde.
"Wir sehen zu flächenhaft, comme les peintres japonais. Wir müssen lernen, hinter die Dinge zu sehen."
Darin reist der verbummelte Student Nikolai Laurentius in den Sommerferien nach langer Zeit wieder einmal in die baltische Heimat, um seinen Großonkel und Vormund zu besuchen. Dort macht er die Bekanntschaft von Professor Reepschläger, wie Nikolais Onkel ein alter Exzentriker, der den okkulten Künsten anhängt. Nikolai verliebt sich in dessen junge Gattin und folgt den Reepschlägers nach Marburg. Einerseits aus Zuneigung für Beate, andererseits aus Neugier an den geheimnisvollen Projekten, an denen der Professor forscht. Der interessiert sich nämlich für immer wieder auftretende Fälle verschwundener Personen, die stark verstümmelt in einem bestimmten Umkreis vom Ort, wo sie zuletzt gesehen wurden, aufgefunden werden…
Das Gesetz des Atum ist charakteristisch für Bergengruens frühe Schaffensphase, in der seine Leidenschaft für die Schauerromantik bevorzugt in phantastischen Stoffen Ausdruck fand. So wirkt dieser Roman auch ein wenig wie ein Relikt vergangener Perioden. Der Autor pflegt hier einen antiquiert-blumigen Stil und verarbeitet sprunghaft diverse Sujets von Märchen, über Alchemie und bewährten Phantastik-Zutaten (Doppelgänger) bis hin zu Science Fiction und ägyptischer Mythologie. Nikolais Zerrissenheit zwischen irdischer Liebe (Beate) und geistigem Ideal gelingt zwar nicht ganz so stringent, dem proklamierten Motto der Reihe wird das Buch mit seiner motivischen Fülle aber allemal gerecht.
"Auch dann konnte ich nur feststellen, dass ein Gewaltiges von mir Besitz ergriffen hatte, dessen Machtzuwachs ich nur hilflos beobachten, mit heimlichen Erschrecken verfolgen konnte, dem entgegen zu wirken ich mich aber außerstande fühlte."
Die Sindbad-Bücher präsentieren sich zeittypisch in bibliophiler Form. In Halbleinen gebunden mit bunt gestalteten Kartoneinbänden, schönen Illustrationen und Schutzumschlägen, die bei den heute gehandelten Exemplaren leider kaum mehr erhalten sind. Lange (und längst wieder) vergessen, wurde Das Gesetz des Atum 1987 in der Phantastischen Bibliothek Suhrkamp neu aufgelegt. Dieser Ausgabe fehlen die an Alfred Kubin erinnernden Zeichnungen Rolf von Hoerschelmanns, dafür enthält sie ein tiefschürfendes Nachwort von Marianne Wünsch (über „Die Ambiguität des Phantastischen zwischen Okkultismus und Psychologie“), worin die Autorin eine überaschende, doch schlüssige sexualisierte, tiefenpsychologische Deutung des Stoffes liefert.
"Was waren das für seltsame, rätselhafte Vorgänge, die diesen Bauern, diesem Studenten, diesem Verwalter, diesem Landstreicher das Leben gekostet hatten?"