Gustav Meyrink: „Meister Leonhard“ in
Zwielicht Classic 15. Magazin für phantastische Literatur. Hrsg: Michael Schmidt. Wroclaw 2019. 212 Seiten.
und
Schwarze Messen. Dichtungen und Dokumente. Hrsg. Ulrich K. Dreikandt. Bibliotheca Dracula im Carl Hanser Verlag, 1970. 316 Seiten.
Auf Arkham Insider Axel s Initiative ziehe ich mal mein review dieser KG aus der Bibliotheca Dracula hier in einen Extra-Thread (ich kann es dort leider nicht löschen / kürzen, sodass es ein Doppelpost ist), und freue mich schon sehr auf weitere Stimmen!
In Meyrinks Golem habe ich nie richtig reingefunden, weil ich den Stil extrem umständlich fand (ähnlich wie ich damals und heute Huysmans‘ empfinde), hier hat die Erzählung eine unglaubliche Sogwirkung auf mich gehabt. Die Geschichte – ein einem einzigen melancholisch-düsteren Rückblick – erzählt von der Lebensgeschichte des titelgebenden Mannes, und von dem manisch-dämonischen Einfluss, den seine psychisch gestörte Mutter auf ihn hatte. Die Geschichte entwickelt noch einen intensiven, überraschenden und genial konstruierten Subplot, der diese kranke Familiengeschichte über Generationen zurückverfolgt und die in einem genialen Twist endet. Genaueres mag ich nicht spoilern.
Nicht nur die Protagonisten und die Details des Plots (der an sich eine durchaus klassische Problematik behandelt) sind ungewöhnlich, sondern ganz vor allem der Stil: Auch wenn es literaturwissenschaftlich gesehen vermutlich nicht zutrifft, liest sich der Text wie ein atemloser, verzweifelter stream of consciousness, der perfekt die Handlung und die Psyche der Figuren widerspiegelt. Die Mutter des Protagonisten ist eine ruhelose, manische und auch sehr grausame, herrschsüchtige Person, die in ihren raschelnden Kleidern aus schwarzer Seide wie ein Orkan durch das Haus fegt, sinnlos Gegenstände verräumt und Möbel umstellt, alles beginnt und nichts zu Ende führt, bis nach Jahren das große Herrenhaus in Chaos versinkt und teils unbewohnbar wird. Der atemlose SoC-Stil ist so die perfekte Form für den Inhalt. Beeindruckend Meyrinks Beschreibungen, welche Auswirkungen dies auf den Jungen, seinen Vater und die Dienstleute hat: Paranoia, Schreckhaftigkeit und das Gefühl, nie bei sich selbst zu sein, sich keine fünf Minuten ungestört in ein Buch oder seine Gedanken vertiefen zu können; und unter modernem Aspekt stellt dies sicher eine Form der Reizüberflutung / sensory overload dar. Sowas wäre für mich - ähnlich wie das Leben in einem totalitären Staat - einer der größten Albträume.
Die Geschichte fängt schlimm an und wird einfach nur immer schlimmer – und da wir uns in der Phantastik befinden, hilft es nicht viel, dass die Mutter irgendwann physisch nicht mehr anwesend sein kann. Die Figur des Meister Leonard ist unter moralischen und psychologischen Gesichtspunkten ebenfalls enorm spannend, und vom Autor mit einer ungeheuren Feinfühligkeit und auch Empathie verarbeitet, wobei dies an herkömmlicher Moral durchaus vorbeiführt.
Zusammen mit Jean Rays „The Mainz Psalter“ (1930) und Bruno Schulz „The Sanatorium Under The Sign of the Hourglass“ (1937) – ist Meyrinks 1925 veröffentlichte Geschichte eines der Werke, das mich wirklich restlos begeistert und mit einem euphorischem Herzklopfen zurückgelassen haben.
Die Fassungen in den beiden o.g. Quellen sind identisch.