Tom Lin - Die tausend Verbrechen des Ming Tsu

  • 1869, als der Westen der USA durch den Bau der Eisenbahnstrecken erschlossen wird. Der chinesische Gangster und Hitman Ming Tsu ist auf einem Rachefeldzug: Weil er Ada, eine weiße Frau, heiraten wollte, wurde er von deren Vater, einem Eisenbahnbaron, beinahe umgebracht und an eine Eisenbahngesellschaft als Arbeitssklave verkauft.

    Aber Ming Tsu lässt sich nicht unterkriegen, schließlich ist er ein professioneller Killer mit sehr eigener Moral. Mit Hilfe eines greisen Chinesen, genannt...


    Die tausend Verbrechen des Ming Tsu. Buch von Tom Lin (Suhrkamp Verlag)
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    Ein Western mit einem chinesischen Killer, der sich rächen will, einem blinden Propheten, der die Zukunft sehen kann.

    Tobias Lagemann hatte den Roman angepriesen und ich lese den gerade. Interessante Lektüre bisher.

  • Mammut

    Hat den Titel des Themas von „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ zu „Tom Lin - Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ geändert.
  • Ich bin durch (hab das englische Original gelesen) und es gefiel mir auch richtig, richtig gut. Das Buch macht den Eindruck, als habe Lin super recherchiert, vielleicht einiges auch selbst probiert (an den Settings LARP-mässig Campen stelle ich mir vor). Der Roman hat zwar einen sehr gradlinigen, auf den ersten Blick schlicht erscheinenden Plot, aber das Ganze ist so haptisch-sensorisch nah dran, und auch unverkrampft poetisch beschrieben, mit einer - wie ich mit einem chinesisch-polnischen Ex aus San Diego bzw. Oakland finde - sehr typisch amerikanisch-chinesischen Abgebrühtheit, Pragmatismus, Schnörkellosigkeit, No-Nonsense-Haltung.


    Auch extrem gut gefällt mir das Verhältnis Erzählzeit vs erzählte Zeit: es geht langsam voran wie es wohl im Zeitalter des Laufens / Reitens / Dampflok-Fahrens eben voranging - ich habe gefühlt so viele Sonnenauf-/untergänge wie Kapitel gelesen und doppelt so oft, wie und wo jemand seine Wasserflasche auffüllt oder seine Schlafmatte ausrollt. Aber genau diese Langsamkeit des Vorankommens - das Tempo beschleunigt dann immer wieder plötzlich und stark bei 'Action' und 'Foreshadowing' - macht eben genau auch die Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit des Romans aus. Apropos: Ich wunderte mich, dass die in der Hitze am Tag reiten, bzw. wie stark sie die Pferde als Wegwerf-Objekt behandeln. Die einzigen Punkte, die ich nicht gekauft hab.


    Dabei baut Lin ständig Momente und Grundprinzipien ein, die eigentlich die Spannung enorm reduzieren sollten:

    - Eine Hauptfigur kann die Zukunft vorhersagen (besonders bei Kämpfen: wer stirbt / überlebt) *)

    - Eine Nebenfigur kann bei anderen Erinnerungen löschen

    - Manchmal ist ein Foreshadowing eben schlicht ein Foretelling


    *) Da man aber nicht weiß, ob die Fähigkeiten - oder die Aussagen - denn immer verlässlich sind, ist es doch ein erstaunlich gutes Mittel, Spannung zu erzeugen.


    Erstaunt hat mich ebenfalls, dass Lin - wie die Stugatzkis - einen Overkill an Adjektiven bringt (allerdings so gut wie keine Adverben), aber alles dennoch individuell, interessant und flüssig, neu klingt. Ich habe echt viele Lieblingsstellen, die ich mir zum Lesen-an-verregneten-Tagen am liebsten rauskopiert hätte.


    Den Titelhelden finde ich enorm sympathisch, sehr nachvollziehbar - beißt sich eigentlich vollkommen mit dem Titel. Ich bin ihm sehr gern gefolgt und hoffe ganz banal, dass er alles gut übersteht. :) Auch die anderen Figuren sind spannend, interessant, individuell und trotz der faktischen Diversity vollkommen frei von neu-politischem Rollenverteilen und social politics. Wo Politik eine Rolle spielt, ist die Historie - die Übertragung ins Jetzt bleibt aber völlig dem Leser überlassen. Sowas mag ich.

    Richtig gefreut hab ich mich - obwohl ja alle Ankündigungen genau das sagen -, dass der Roman wirklich phantastisch ist, im Sinne von paranormal / magischer Realismus.

    Und es war doppelt spannend, weil ich die ungefähre Gegend kenne - der chinesische Vater meines Ex wohnte in Lodi, wir sind da von Oakland aus hoch, durch Sacramento und tatsächlich nach Reno, das sehr viel charmanter ist als das neureich-überzogene (und trotzdem faszinierende) Las Vegas. Viel Ähnlichkeit hat die Landschaft vom Highway aus gesehen allerdings (leider) nicht mit den halb-verlassenen backwater Siedlungen und Schleichwegen der Romanfigur. Hatte dennoch massig Flashbacks Richtung Death Valley, Nevada, Bay Area, LA ...


    Fette Empfehlung auch von mir und fetten Dank noch mal für's Vorstellen! MammutWSKY


    Schade fand ich trotzdem drei Dinge:

    - Das Ende ist stimmig, aber null überraschend. Hier hätte ich mir sehr viel mehr Schräges, Weirdes gewünscht.

    - Die Gewalt / Tötungen sind in sich irgendwie recht ähnlich (von den Beschreibungen her, aber auch vom Tempo, Aufbau) und werden ohne große Probleme für die Titelfigur abgewickelt - die Probleme hat er dann an anderen Stellen. Also kein overpowered character.

    - Vor allem aber: Plotmässig hat die ganze Episode (wohl 8/10 des Buches) mit der Sideshow bzw. die "Wunder" mA zu wenig Konsequenzen auf den Hauptplot. Da hab ich eindeutig mehr erwartet ... oder aber ich hatte Tomaten auf den Augen und das nicht gerafft! (Alles ist möglich.)


    Super Buch, mit viel Spannung gelesen (und ich glaube, heute Nacht davon geträumt) - Lin ist erst 27 Jahre alt, ich hoffe, da kommt noch ne ganze Menge Literatur hinterher.

  • Habe es jetzt auch gelesen und bin dankbar für den Tipp. Ich habe einen sehr guten Freund aus Schulzeiten. Er ist eigentlich kein "Horror-Leser", aber wenn es weird wird, dann haben wir eine Schnittmenge. ich denke, ich werde ihm das Buch schenken.


    Immer, wenn Katla ein Buch mag und bespricht, kann ich mich dem oft vollumfänglich anschließen.


    Was das Erzähltempo anbelangt, so fand ich das auch spannend, wie man Langsamkeit und Ödnis erzeugen kann. King ist es ebenso mit seiner Turm-Saga gelungen und Lin gelingt es auf weniger Seiten, dafür aber mit mehr Wasserlöchern.


    Hervorzuheben ist für mich noch die Ausbeutung chinesischer Arbeiter, die als Gleisbauer in der Wüste verheizt wurden. Immerhin ist zwar 1869 die Sklaverei überwunden worden, dennoch taucht sie hier in einem neuen Gewand auf.


    Mit dem Ende konnte ich mich hingegen sehr gut anfreunden, mehr noch, ich habe es in seiner Konsequenz gefeiert. Immerhin ist es doch irgendwo auch einfach nur eine Liebesgeschichte ...


    9 von 10 Beschlagnägel von mir.

  • Hmm. So ganz kann ich mich euren Lobeshymnen nicht anschließen.

    Positiv: Ein stimmungsvoll-atmosphärischer Road Trip (auch wenn die "Roads" gemieden werden), ein dazu passendes ruhiges Erzähltempo. Man bekommt ein Gefühl für die endlose Weite des Landes und die Gewalt der Natur.


    Trotzdem fand ich das Ganze eher enttäuschend. Die Hauptfigur ist durch und durch unangenehm: ein Killer, der die ganze Zeit emotionslos Leute umbringt, gerne auch mal Unbeteiligte. Ganz offenbar etwas, was er schon sein ganzes Leben lang gemacht hat. Hmm. Emotionen empfindet er nur für seine Frau, die er ach so wahnsinnig liebt – was ihn allerdings nicht daran hindert, auf dem Weg zu ihr bei der ersten Gelegenheit mit einer anderen rumzuvögeln.


    Die Handlung ist sehr schlicht und dreht sich eigentlich nur im Kreis: Ankunft in einer Stadt, dort gibt’s Ärger und er sticht oder knallt irgendwen ab. Dann zieht die Truppe weiter, erreicht nach ein paar Tagen die nächste Stadt und es geht wieder von vorne los.

    Interessant wurde es kurz, als die durchaus gruseligen übernatürlichen Elemente ins Spiel kamen: die wirken zunächst spannend, spielen dann aber leider im Laufe der Geschichte kaum eine sinnvolle Rolle.

    Manches wird auch einfach nur kurz angerissen und dann nie wieder erwähnt (Stichwort Zeitschleife).


    Man wartet immer auf irgendeinen besonderen Kick, aber der kommt einfach nicht. Es gibt in der Geschichte keine echte Entwicklung, keine Überraschung und keine zusätzliche Ebene, die sich mal auftut. Stattdessen: nächste Stadt, nächster Kampf, nächster Mord. Dann ein paar kalte Nächte unterm Sternenhimmel. Repeat.

    Schade. Kein kompletter Reinfall, aber da wäre viel mehr möglich gewesen.