Über H. G. Wells muss man hier ja nicht viele Worte verlieren. Sicher hat ein Großteil der Community seine Bücher "Krieg der Welten", "Die Insel des Dr. Moreau", "Der Unsichtbare" und "Die Zeitmaschine" gelesen, oder zumindest schon mal davon gehört. Abgesehen von den Klassikern (die ich alle mag) hatte ich mich ehrlichgesagt jedoch nie besonders intensiv mit ihm beschäftigt. Die Edition Phantasia widmet sich glücklicherweise seit ein paar Jahren seinen eher unbekannteren Werken und bietet für mich somit eine gute Gelegenheit diese Bildungslücke mal zu schließen.
Fünf Bücher (teilweise bereits erschienen, teilweise nur angekündigt) stechen dabei besonders heraus: Hochglanzkaschierte Bände im "Pulp-Look" & im Samtschuber, limitiert auf 250 Stück, mit Illustrationen und einem von der Illustratorin handsignierten Porträt von H. G. Wells.
Ich werde nicht alle lesen, aber zumindest drei davon hab ich mir inzwischen gekauft bzw. vorbestellt. Begonnen habe ich meine Lektüre mit:
DIE ERSCHEINUNG VON CAMFORD (The Camford Visitation)
Klappentext:
"Etwas Unerhörtes geschieht in dem ruhigen Universitätsstädtchen Camford: An der dortigen Universität ertönt plötzlich wie aus dem Nichts eine körperlose Stimme. Die rätselhafte Erscheinung von Camford sorgt für nicht wenig Wirbel in den akademischen Kreisen, denn nicht nur plaudert sie ungeniert aus dem Nähkästchen, sie versichert den bestürzten Professoren auch, dass sie zwar an der Spitze der Bildung, dieser Bildung jedoch auch gleichzeitig im Weg stünden. Und sie warnt vor einem verheerenden Krieg und dem Ende der Welt.
In „Die Erscheinung von Camford“ warnt H. G. Wells die Weltöffentlichkeit vor einem bevorstehenden Krieg und kritisiert zugleich die Tatenlosigkeit, mit der Europa das Treiben des Faschismus mit ansieht, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Nur wenige Jahre später sollten sich die Prophezeiungen der Stimme von Camford als geradezu prophetisch erweisen."
Meine Meinung:
Hierbei handelt es sich nicht nur um ein eher unbekanntes Buch von Wells, es war auch nie besonders erfolgreich. 1937 wurden zehntausend Exemplare angefertigt, wovon sich in den folgenden Jahren allerdings nur zweitausend Stück verkauften. Der Rest wurde dann später vernichtet oder verramscht. Ein Schicksal, um schon mal vorzugreifen, welches die Novelle nicht wirklich verdient hat.
"Die Erscheinung von Camford" ist mMn eine wirklich nette Gesellschaftssatire, welche sich die Ignoranz bzw. gnadenlose Verblendung der Menschheit zum Thema macht und dabei verdeutlicht, dass es meist nicht wichtig ist, was jemand sagt, sondern wer es sagt. Statt auf die Stimme zu hören, die die Erdbevölkerung vor ihrem drohendem Untergang warnen will, sind die Professoren nämlich vielmehr daran interessiert, was es denn eigentlich mit dem Phänomen auf sich hat. Die Botschaft wird dabei schnell und eher beiläufig als ein "Angriff auf unser Selbstwertgefühl" abgetan. Und dann beginnt das große Rätselraten:
Einer von ihnen vermutet hinter der Stimme einen unsichtbaren Mann. Wells nutz diese Gelegenheit gleich mal um sich über seinen eigenen Roman von 1897 lustig zu machen: "Es gibt tausend Gründe, weshalb ein unsichtbarer Mann unmöglich ist (...) Sichtbare Pupillen der Augen. Essen. Schmutz. Und so weiter." Es scheint fast so als wäre er 40 Jahre nach der Veröffentlichung nicht mehr ganz so glücklich über die wissenschaftliche Unkorrektheit seines alten Sci-Fi-Klassikers.
Ein Andere hält die Stimme für ein Alien und schreibt darüber später eine Abhandlung namens "Außerirdische Einflüsse auf den menschlichen Geist". Das erinnert wiederum etwas an das spätere Schicksal von Philip K Dick und seine Exegese, in der zu ergründen versuchte, ob die Visionen oder Stimmen die er sah und hörte außerirdischen oder gar göttlichen Ursprung waren oder ob er nicht einfach "nur" eine Psychose hatte. (Auch wenn PKD beim Erscheinen von Wells Geschichte erst 9 Jahre alt war und wahrscheinlich noch ganz andere Sorgen hatte.)
Jedenfalls erscheint die Stimme im Verlauf der Handlung noch einer Vielzahl weiterer Personen und führt mit ihnen philosophische Grundsatzdiskussionen. Das macht "Die Erscheinung" auch eher zu einem Thesenroman. Wells bzw. die Stimme reflektieren hier munter über Literatur, Bildung, Kommunismus, Krieg... eine stringente Handlung sollte man dabei nicht erwarten – Eher eine Abrechnung mit der damaligen Gesellschaft, die sich allerdings gar nicht so sehr von der heutigen unterscheidet.
Am Ende (und hier folgt ein kleiner Spoiler) wird die Stimme dann so lange ignoriert, bis sie schließlich verstummt. Nun können alle endlich so weiter machen wie bisher und sich wieder mit wirklich wichtigen Themen auseinandersetzen - "Ich fand, die Prinzessin hat heute ganz bezaubernd ausgesehen."
Ergänzt wird das Ganze schließlich noch durch ein gelungenes Nachwort von Horst Illmer – "Die Hälfte aller Sterne am Himmel sind brennende Überreste von Welten die hätten sein können". Alles in allem also eine äußerst lesenswerte Angelegenheit. Ob man dafür allerdings 65,- ausgeben will, muss jeder für sich entscheiden. Ich habe den Kauf jedenfalls nicht bereut.
Als nächstes werde ich nun "Der Krocketspieler" lesen. Susanne hat hier ja bereits "Die Meerjungfrau" vorgestellt. Sonst noch jemand Erfahrungen mit den unbekannten Werken von Wells?