Jacques Hamelink: Horror vacui

  • Jacques Hamelink: Horror vacui

    Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967

    Übersetzt aus dem Niederländischen von Jürgen Hillmar

    165 Seiten


    Suhrkamp geht recht larifari mit den Quellenangaben um: es werden nicht die Originaltitel der Bücher, sondern nur deren Erscheinungsjahre angegeben, sodass es wirkt, als kämen die übersetzten Kurzgeschichten vielleicht aus zwei verschiedenen Auflagen des gleichnamigen Buches. Tatsächlich stammen nur zwei Texte aus Horror Vacui, die meisten aber aus der Sammlung Het plantaardig bewind.


    Inhalt Suhrkamp:

    Horror vacui | Horror Vacui (1966, HV, dort 3.)

    Brandopfer am Sonntag | Brandoffer op zondag (1964, Het plantaardig bewind)

    Der wandernde Wald | Het wandelende woud (1964, ebd.)

    Ein aufgehaltenes Unwetter | Een opgehouden onweer (1964, ebd.)

    Ein scheintoter Mond | Een schijndode maan (1966, HV, dort 1.)

    Durch eine Membran von Müdigkeit und Tränen | Door een vlies van slaap en tranen (1964, ebd.)


    In der deutschen Fassung nicht enthalten, aber im Niederländischen Horror Vacui: Spons in de bloedsomloop (Schwamm im Blutkreislauf), De Vijand (Der Feind), Een grote spierwitte kat (Eine große, schneeweiße Katze), Spaldarg (Eigename der Prota).



    Der zweite Suhrkamp-Band, den ich im Regal fand, ohne Erinnerung daran, wann und warum ich den kaufte. ?( Jedenfalls ein echter Glücksgriff.

    Hamelink schreibt sensorisch/haptisch und vor allem sehr präzise; dabei mit elegant-verrückten Wortschöpfungen bzw. Beschreibungen, die sofort lebendige Bilder und Atmosphäre vermitteln - allerdings nie als Selbstzweck und nicht zu überbordend. Besonders die ersten beiden - sehr kurzen - Erzählungen haben mich extrem fasziniert und begeistert (bzw. auf angenehme Weise abgestoßen, wo gewollt Ekel/Abscheu ausgelöst werden soll).


    Der Autor schrammt mit seiner Phantastik bzw. auch seinem Stil knapp am klassischen Surrealismus vorbei, erinnert mich an Anatol Baconsky, Michael Perkampus, Peter Verhelst und - hier eher von der Stimmung als vom Stil oder Motiven her - Leonora Carrington. "Ein scheintoter Mond" wieder könnte gut eine Variation von Bruno Schulz' "Das Sanatorium zur Sanduhr" sein - nur mit vertauschten Rollen bei Vater und Sohn (hier der Patient): Es geht ebenfalls um eine private Heilanstalt, eine seltsame Anreise, feuchtkalte und zugige Zimmer / Bettdecken, einen scheintoten Greis, gruseliges Personal, eine bedrohlich-seltsame Außenwelt, extreme grundlose Erschöpfung und albtraumartige Schrecken. An auch Schulz gemahnt das wiederkehrende Motiv einer 'ungesunden' Sexualität (bei Schulz non-con wirkender Sadomasochismus / psychologische Erniedrigung; bei Hamelink erwachende Sexualität von Jungen, die sich mit Gewalt gegen andere Jungs und auch Ausnutzung durch erwachsene Frauen bzw. geisterhafte Mädchen mischt). That said: Hamelinks Texte sind keinesfalls explizit, es wird viel angedeutet, umschrieben, oder - wenn nicht 'weggeschwenkt' wird - bleibt die sexuelle Motivation letztlich vage, undefiniert und der Interpretation des Lesers überlassen. Jedenfalls ist es eine sehr ehrliche, individuelle Herangehensweise, die sich so dank der momentanen sozialpolitischen Bewegung, die bei jeder heiklen Aussage klare Verortungen und strikte Eindeutigkeit verlangt, heute wohl nicht mehr finden ließe.

    Weitere häufige Motive sind selbst handelnde, meist bösartige Pflanzen / Wälder; Sumpf- oder Karstlandschaften, andauernde Nacht, unheimliche Häuser oder Straßen, die in Parallelwelten liegen, sich nicht mehr wiederfinden lassen oder anders wirken (wie z.B. bei Jean Rays "Gasse der Finsternis"), seltsam verunstaltete Nebenfiguren mit ambivalentem Verhalten, geisterhafte Mädchen und strenge, seltsame Frauen (erinnerten mich teils an Leonora Carringtons Figuren, z. B. in "Das Haus der Angst"), Kälte und Dunkelheit. Daneben für den Horror klassische Ambivalenzen in Bezug auf lebendig / tot bzw. lebendig / marionettenhaft, Pflanze / Mensch, Zeit, Traum vs Realität / Anderswelt.


    Dezente Kritik hab ich nur - das betrifft zwei längere Geschichten - bezogen auf einen Overkill von Vergleichen (als ob xy wäre, schien wie xy zu sein), was mich ab einer bestimmten Häufung generell ganz extrem nervt und aus den Geschichten kickt, zudem an fast an allen Stellen vermeidbar, durch eine selbstbewusstere Aussage auszudrücken wäre (da es ja bereits offensichtlich phantastisch ist). In einem Text, der ggfs. nicht chronologisch geschrieben wurde, gibt es einige Redundanzen im Plot bzw. einen kleinen Anschlußfehler bzgl. der Tageszeit, wofür es keinen spekulativen Grunde gäbe. Bes. "Der wandernde Wald" und "Der scheintote Mond" hätten imA leicht gestrafft stärker wirken können. Ist aber wirklich Gemoser auf hohem Niveau.


    Der Autor wurde 1939 in Driewegen als Jacobus Marinus Hamelink geboren und starb erst kürzlich, 2021. Er schrieb Prosa, Lyrik und Fachartikel/Essays, gewann mehrere niederländische Literaturpreise. Sein Gesamtwerk (1964-2020) umfasst 40 Veröffentlichungen (Sammelbände sowie einzelne längere Erzählungen und Essays), wovon es auf Deutsch ... genau eine einzige Veröffentlichung (diesen Suhrkamp-Band) gibt. *heul*

    Hamelink begann mit surrealistisch-phantastischer und vor allem stark pessimistischer Prosa, die sowohl bei Literaturkritikern wie auch Lesern großen Erfolg hatte, schwenkte dann aber auf symbolistische, idiosynkratische bzw. hermetische und mit literarischen Referenzen durchschossene Texte um, die abstrakter und protagonistenärmer sind und sich mit sprachtheoretischen bzw. philosophischen Fragestellungen beschäftigen. In erster Linie, dass Lyrik (wie auch Prosa) Unsagbares zu erzählen versucht, daran scheitert und dieses Scheitern wahre Größe hervorbringe / bedeute.


    Hier zeigt sich eine extrem interessante Thematik, die u.a. Martin Rode Becher in seinem An den Grenzen des Staunes mit Ballards Dystopien sowie Graham Harman in Abyssus Intellectualis mit Lovecraft in Verbindung bringt: Eben das Ringen um die Beschreibung des Unbeschreibbaren; der Punkt, an dem es nicht mehr gelingt, das Geschehene (eigentlich das Bezeichnete) mit Sprache (das Bezeichnende) auszudrücken. Aus dieser Phase gibt es aber leider eben keine deutsche Fassung.

    Zu den ersten, pessimistisch-surrealistischen Werken gehören:

    - De eeuwige dag (Lyrik, 1964)

    - Het plantaardig bewind (Sammlung / Kurzprosa, 1964)

    - Horror Vacui (Erzählungen, 1966)

    - Een koude onrust (Lyrik, 1967)

    - De rudimentaire mens (Sammlung / Kurzprosa, 1968)


    Ich bin zwar bei Jean Ray a.k.a. John Flanders gescheitert, aber versuche es vielleicht mal mit Hamelink im Original, weil mir seine (Flämische) Sprache vom Reinlesen sehr viel vertrauter vorkommt und ich einigen Sätzen ganz okayish folgen kann. Da im Spätwerk viele antiquierte Wendungen sowie Neologismen / Wortschöpfungen vorkommen, würde ich es eher mit diesen ersten Bänden versuchen.

    Kann mir gut vorstellen, dass das auch etwas für Nils und Arkham Insider Axel sein könnte.

  • Kann mir gut vorstellen, dass das auch etwas für Nils und Arkham Insider Axel sein könnte.

    Oh, das ist übel my dear! Ich hatte das Suhrkamp-Buch einige Jahre hier herumstehen: "hatte", weil verschiedene Expeditionen in meine Bibliothek heute nachmittag nichts mehr zu Tage gefördert haben. Ich erstand den Band von einem Phantastik-Sammler, der einige Jahre auf dem Dortmunder Flohmarkt verkaufte; kann mich noch gut daran erinnern. Allerdings törnte mich dieses nichtssagende Design des Taschenbuchs regelmäßig ab – nie kam ich in Stimmung, mich mal in das Werk zu vertiefen. Jetzt, ja jetzt hätte ich einen hervorragenden Grund zur Lektüre gehabt …


    Ich tu mal den Eintrag zu Hamelink aus dem Lexikon der phantastischen Literatur hier anhängen. Mehr kann ich leider gerade nicht liefern. Asche auf mein Haupt.


  • Klingt in der Tat sehr reizvoll

    Oh, das sollte mich freuen! :*

    Oh, das ist übel my dear! Ich hatte das Suhrkamp-Buch einige Jahre hier herumstehen: "hatte", weil verschiedene Expeditionen in meine Bibliothek heute nachmittag nichts mehr zu Tage gefördert haben.

    Würde ich an Paranormales glauben, wäre ich überzeugt, dass es aus deinem Regal ausgebüxt ist und sich in meinem versteckt hat. ^^ Kein Wunder, dass ich mich nicht mehr erinnere, es gekauft zu haben!

    Allerdings törnte mich dieses nichtssagende Design des Taschenbuchs regelmäßig ab

    Ich mag die Edition Suhrkamp eigentlich ganz gern: schnörkellos und auf den Punkt. Der Satz ist klar und nicht zu groß, auch insgesamt ein schönes Format. Ab einer gewissen Größe kaufe ich inzw. Prosa gar nicht mehr, Schrift Pkt. 18 mit zweifachem Zeilenabstand und alles zu einem Backstein aufgeblasen ...

    Vllt. bin ich die auch nur gewohnt, meine Mutter hat einige davon, schon sehr lange. Allerdings - da verstehe ich dich total - gibt's da manchmal wirklich grausame Farben (grell Orange, Magenta-Pink ...) und dieses Grün ist einfach extrem unästhetisch.


    Lieben Dank fürs Einstellen - "lustvoll erfahrene Regression" ist jedenfalls ein klasse Begriff. Ein schöner Abriss. [Cof]

  • Vllt. bin ich die auch nur gewohnt, meine Mutter hat einige davon, schon sehr lange. Allerdings - da verstehe ich dich total - gibt's da manchmal wirklich grausame Farben (grell Orange, Magenta-Pink ...) und dieses Grün ist einfach extrem unästhetisch.

    Für sich genommen ist die Farbgestaltung einiger ES-Bücher wirklich gewöhnungsbedürftig, aber man muß sie im Kontext des Gesamtkonzepts von Willy Fleckhaus (der ja auch die Bibliothek Suhrkamp gestaltet hat, die mir persönlich besser gefällt) sehen - idealerweise sieht das dann so aus:


    Edition Suhrkamp Laden | Friedrich von Borries


    Allerdings: Wer hat schon die komplette ES-Sammlung, um sich zuhause im Buchregal ein Spektralfarbenkunstwerk einzurichten... ;)

    Danke übrigens für die Vorstellung des Buches von Hamelink! Der Autor war mir bis dahin vollkommen unbekannt. Das Buch wäre in der Phantastischen Bibliothek von Suhrkamp wohl besser aufgehoben gewesen, dort hätte es mehr Aufmerksamkeit gefunden.

  • Danke übrigens für die Vorstellung des Buches von Hamelink! Der Autor war mir bis dahin vollkommen unbekannt. Das Buch wäre in der Phantastischen Bibliothek von Suhrkamp wohl besser aufgehoben gewesen, dort hätte es mehr Aufmerksamkeit gefunden.

    Hallo Arkadin ,


    oh, das freut mich ja sehr, wenn er auch für andere eine Neuentdeckung wäre. Ja, mag sein, dass die phantastische Reihe günstiger gewesen wäre, aber ich bin durchaus ein Freund davon, Phantastik auch in regulären Reihen / Verlagen zu finden. Hat Vor- und Nachteile, sicher.


    Waaaah - das Photo. Ich werd blind. [skul] Bis auf drei Farben (genau dieses Hellgrün, Orange und grell Pink) finde ich das eigentlich ne sehr schöne Reihe. Vor allem dieser schlichte Satz mit den Linien und aller Text in einer Größe, wirkt sehr selbstbewusst und man bekommt gar keine Vorahnung, wie der Text sein könnte oder die Stimmung darin. Ich verteile meine paar allerdings über die Regale (wirklich anders als die rosa / lila Phantastikreihe, die ihr eigenes Segment hat, und deren Farben ich an sich auch nicht sooooo liebe.)