Ich möchte einfach mal diesen Autoren ins Spiel bringen, weil ich den Eindruck habe, er wäre für zu viele durch die Pflichtlektüre in der Schule ‚verbrannt‘ worden.
Durch die Büchersammlung meiner Mutter habe ich Shakespeare zur selben Zeit angefangen zu lesen wie die klassischen Gespenstergeschichten / Gothic Tales, wenige Jahre vor Lovecraft und den Strugatzkis. Und zwar auch in der Schule: unter dem Tisch in Mathestunden. Shakespeares Tragödien sind schuld, dass ich heute zwar gut Budgets planen und verwalten kann, aber für meine Navigationskurse erstmal Nachhilfe brauchte. : D Seit meiner Teenagerzeit habe ich Shakespeare immer wieder gelesen, und entdecke immer noch neue Details, versteckte Andeutungen und vor allem komplexe psychologische Analysen.
Die Konflikte, psychischen Zustände, sind so fein beobachtet, dass sie ohne Abstriche auch mit einem ‚postmodernen Auge‘ gelesen werden können. Das macht für mich mit Abstand den größten Reiz an Shakespeares Tragödien aus: psychologische Abgründe, ein gewisser sozialkultureller Pessimismus, keine leichten Lösungen, sondern nur Analysen und Fragestellungen. Daneben gibt es aber auch Phantastik-relevante Zutaten, die das Ganze extrem spannend machen. Außerdem hat Shakespeare einen wirklich abgründigen, zynischen Humor, der dennoch nie menschenverachtend ist, sondern eher von einer Verzweiflung an der Menschheit zeugen könnte.
Wenn Shakespeare in Zusammenhang mit Phantastik genannt wird, ist das meist Der Sommernachtstraum / Midsummer Night’s Dream, allerdings ist das auch nervig zuckrig-heiter. Phantastik- oder Horror-relevante Themen werden aber genauso in vielen Tragödien behandelt, die heute nichts von ihrer Relevanz verloren haben. Man kann – siehe die Filmliste unten – die Stücke ohne Anpassung der Handlung oder teils sogar des Wortlautes in aktuellere Settings verlegen, und damit eine gültige Aussage zu (post)moderner Politik treffen. Einige der besten Verfilmungen spielen in Diktaturen bzw. handeln von modernen Konflikten.
Poster für Theaterproduktionen und Buchcover (Szenenfoto aus dem unten genannten Film):
Die Phantastik wird – quasi im Stil des spekulativen Realismus – in ansonsten realistische Handlungen ganz selbstverständlich eingebunden und nicht wie in späteren Gothic Tales (Horror) wegerklärt. Dabei sind die Erscheinungen kein mittelalterlicher „Aberglaube“, sondern verknüpft mit emotionalen Ausnahmezuständen bzw. psychischen Druck. Hamlets ermordeter Vater erscheint nicht nur seinem Sohn, sondern auch dessen Freund und Wachleuten; die berühmten drei Hexen in Macbeth sind den nordischen Schicksalsgöttinnen nachempfunden, aber vielleicht nur Frauen mit großer psychologischer Manipulationsgabe (Macbeth und die Lady sorgen selbst für das Eintreten der Prophezeiungen). Phantastik-nah sind auch die Themen um Wahnsinn, so halluziniert Lady Macbeth nach dem Mord Blut an ihren Händen, das sie nicht abwaschen kann; Hamlet wird von der – ihm nicht zugestandenen – Trauer um seinen Vater und durch die Isolation / Entfremdung innerhalb der Familie in eine Depression getrieben; Macbeth erscheint Banquos Geist beim Bankett. Geistererscheinungen sind bei Shakespeare nicht unterhaltsames Beiwerk, sondern lösen verdrängte oder unterdrückte Reaktionen aus, die dann in die Katastrophe führen.
Zum anderen sind physische und psychische Gewalt und Terror ein zentrales Element vieler Stücke, sie haben einen höheren Bodycount als mancher Horrorfilm: In Macbeth, das oft als gewalttätigstes Stück gilt, sterben 9 Protagonisten; in Hamlet 11, wobei von den Hauptfiguren nur Hamlets bester Freund Horatio als last man standing übrig bleibt; 12 in Titus Andronicus und immerhin noch 8 in Richard III.
Nicht nur durch Stichwaffen oder im Krieg wird getötet: Es gibt Suizid (insg. mehr als 20!), bis zum Hals eingraben (Verhungern), Zerreißen durch einen wütenden Mob, Schlangenbiss, Gift … Und es wird sehr einfallsreich gefoltert: in King Lear werden dem Duke of Gloucester „onstage“ die Augen herausgerissen, Titus Tochter wird vergewaltigt, dann schneiden ihr die Täter die Zunge heraus und schlagen ihr die Hände ab, damit sie die Schuldigen nicht verraten kann (an die Stümpfe bindet sie sich tote Äste, was gruselig surrealistisch aussieht); Cordelia wird in King Lear von einem Auftragskiller erhängt; Edward II stirbt durch Pfählung mit einem glühenden Eisenstab, Titus serviert Saturnius dessen in Teig zu Tode gerösteten Söhne (sehr passend, dass Titus in einem Film von Anthony Hopkins gespielt wird).
Und im gleichen Stück wird recht drastisch und makaber über die Ermordung eines Neugeborenen verhandelt (A Serbian Film lässt grüßen!):
NURSE.
A joyless, dismal, black, and sorrowful issue:
Here is the babe, as loathsome as a toad
Amongst the fairest breeders of our clime:
The empress sends it thee, thy stamp, thy seal,
And bids thee christen it with thy dagger's point.
AARON.
Zounds, ye whore! is black so base a hue?—
Sweet blowse, you are a beauteous blossom sure.
(…)
What, must it, nurse? then let no man but I
Do execution on my flesh and blood.
DEMETRIUS.
I'll broach the tadpole on my rapier's point:—
Nurse, give it me; my sword shall soon despatch it.
AARON.
Sooner this sword shall plough thy bowels up.
[Takes the CHILD from the NURSE, and draws.]
Wer „Shakespeare“ war, wird wohl nie mit Sicherheit geklärt werden. Wahrscheinlich ist eine zeittypische Kooperation verschiedener Autoren, die in einem Workshop arbeiteten. Zudem – wie eine Handschrift von Hamlet belegt – muss es auch Schauspieler gegeben haben, die Texte aus dem Gedächtnis notierten, allerdings in stark vereinfachter Variation.
Verfilmungen / Theater:
Im Uhrzeigersinn von links oben:
* Hamlet – David Tennant, Patrick Stewart, Penny Downie (Royal Shakespeare Company, Gregory Doran. UK 2009, BBC). Setting: Helsingør, Dänemark 1980–
* Richard III – Ian McKellen, Annette Bening, Robert Downey Jr (Richard Loncraine, UK/USA 1995). Alternative History: Faschistisches UK 1930er
„I can smile, and murder while I smile.“
Tolle mock-Vintage Photogallerie: https://mckellen.com/m/galleries/60.htm
* Macbeth – Patrick Steward, Kate Fleetwood. (Rupert Gould, UK 2010, BBC. Rumänien, Ceaușescu-Diktatur 1960-1990.
*The Tempest – Toyah Willcox, Heathcote Williams (Derek Jarman, UK 1979). Fantasy: 1980er Punk / Subcultures
* The Māori Merchant of Venice / Te Tangata Whai Rawa o Weniti – Waihoroi Shortland, Ngarimu Daniels, Lawrence Makoare (Lurtz / Witchking in Jacksons LotR) in einer Nebenrolle (Don Selvyn, NZ 2002)
* Richard II – Eddie Redmayne (Michael Grandage, Donmar Warehouse London, 2011). Spätmittelalter mit minimalistischem Touch.
* Edward II – Tilda Swinton (Derek Jarman, UK 1991)
* Titus (Titus Andronicus) – Anthony Hopkins, Jessica Lange (Julie Taymor, USA/UK 1999). Surrealistischer Epochenmix: Mussolinis Italien & das antike Rom
* Coriolanus – Ralph Finnes, Gerard Butler, Vanessa Redgrave (Ralph Finnes, UK 2011). "A Place Calling Itself Rome" impliziert Serbo-Kroatien, Balkankrieg 1990er.
Für Richard II (2012, Royal Shakespeare Company am Barbican, wieder mit David Tennant und von Gregory Doran) bin ich für ein Wochenende extra nach London geflogen, einfach weil ich deren Hamlet auf der Bühne verpasst hatte und dessen Verfilmung mein Favourite ist. Allerdings war die Aufführung unsagbar schlecht, und zwar unter allen Gesichtspunkten. Nur mit London selbst kann man selbstverständlich nix falsch machen.
Filme zum Subtext:
Anonymous – Rhys Ifans, Jamie Campbell Bower, Vanessa Redgrave (Roland Emmerich, DE/USA 2011)
Doctor Who (10th Doctor / David Tennant): The Shakespeare Code (UK 2007, BBC)
10 Things I Hate About You / Taming of the Shrew – Heath Ledger (Gil Jounger, USA 1999). Setting: ‚Culture Wars‘ an einer Highschool. Allerdings keine Tragödie.
Vor drei Jahren konnte ich mir zufällig Schloss Kronburg in Helsingør ansehen, weil wir mit unserem Schoner Helena (rechts im Bild) in stürmischem Wind auf dem Weg nach Halmstad einen Nothafen anlaufen mussten. Das Schloss hatte ich mir immer viel kleiner vorgestellt, es ist aber ein absolutes Monstrum und sehr beeindruckend.