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Stefan Grabiński: Das graue Zimmer – Unheimliche Geschichten
Berlin 1985, Verlag Volk und Welt. 369 Seiten.
Aus dem Polnischen übersetzt von Charlotte Eckert und Kurt Kelm. Nachbemerkung der Herausgeberin Jutta Janke.
Umschlaggestaltung: Gudrun Olthoff. (Dies ist die 1. Auflage, bei Volk & Welt ist auch eine ebenfalls hübsche schwarze Ausgabe in der Reihe Spektrum erschienen.)
Gleich vorweg geht ein enthusiastischer Dank an Nils , der mir wunderbares Material und Tipps zur Polnischen Phantastik schickte, und über den ich diesen Autor kennengelernt habe. (Vielleicht für mich 'Viertelpolin' mit polnischen Freunden und einer Liebe zu Szczecin & Świnoujście beschämend, aber ich war bis dahin bei der russischen SciFi hängen geblieben.)
Diese Sammlung präsentiert 20 von Grabińskis ingesamt rund 60 verfassten bzw. 40 ins Deutsche oder Englische übersetzten Kurzgeschichten aus der gesamten Zeit seines Schaffens, 1906-1930. Die Texte sind sehr unterschiedlich, sowohl im Stil als auch thematisch: Es gibt Psycho-Paranormales, wobei sich angenommene Halluzinationen als wahr (und oft als fatal) erweisen; klassische Phantastik mit Wiedergängern, Vampiren oder Monstern aus Volkssagen; und schließlich die Erzählungen, die 1919 unter dem Titel Der Dämon der Bewegung / Demon ruchu veröffentlicht worden waren: Zug- und Eisenbahnergeschichten, mit denen Grabiński bekannt wurde.
In den älteren wie jüngeren Texten um den Dämon herum werden – wie bei vielen Gothic Tales – auf eher langwierige und umständliche Art Prämissen vorgeführt, es gibt reichlich – für meinen Geschmack viel zu viel – dräuendes foreshadowing und ein oft vorhersehbares, aber umso abrupteres Ende. Dass sein Ruf als „polnischer Poe“ aus diesen Geschichten resultiert, ist offensichtlich (ich sehe auch große Ähnlichkeit mit Le Fanu), allerdings finde ich Poes und Le Fanus Geschichten stringenter, spannungsreicher und auch überraschender. Bei allen drei Autoren stehen moralische Plots im Vordergrund, wobei Religion angenehmerweise keine Rolle spielt.
Ich hatte das Buch vor 3 Wochen gelesen, und mir fiel beim Reinschauen gerade auf, wie viele dieser Geschichten mir schon entfallen waren. Ausnahmen: „Das weiße Gespenstertier“ (kannte ich schon als „The White Wyrak“ aus VanderMeers The Weird) und „Saturnus Sektor“, eine komplexe Geschichte um einen Uhrmacher und die Zeit. Auch „Die Feuerstätte“ sowie die Titelgeschichte haben mir außerordentlich gut gefallen, wobei die Idee hinter der ersteren auch sehr ungewöhnlich, schräg und innovativ ist.
Das wirklich sensationelle Kernstück dieses Bandes sind aber die Eisenbahnerzählungen, die zu den besten Kurzgeschichten gehören, die ich aus der Phantastik kenne und die vollkommen individuelle und unverbrauchte Settings, Charaktere und Plots haben. Der Stil ist expressionistischer, stringenter, die Dialoge lebendiger, und sie vermitteln sowohl ein Stück Regionalhistorie wie auch sehr persönlich wirkendes Schicksal und Tragik. Diese Stories verzichten auf den sonst vorherrschenden Tonfall des späten 17. bzw. frühen 18. Jahrhunderts, und bieten sowohl psychologische Tiefe wie auch liebenswerte oder interessante Details aus dem Alltag. Ich finde sie als einzige in dem Buch auch gruselig.
Im Einzelnen:
Falscher Alarm
Es kommt immer wieder zu katastrophalen Zugunfällen an Bahnhöfen, die durch offenbar falsche Weichenstellungen bzw. Informationen verursacht wurden. Zudem gibt es eine unwahrscheinliche Vielzahl an tatsächlich falschen Alarmen. Bahnwärter Bytomski glaubt, ein paranormales System stecke hinter dahinter, und dass falsche Signale tatsächlich jeweils drei Bahnhöfe vor oder hinter dem Gewarnten beträfen. Er protokolliert nun alle Signale und Unfälle, bis er meint, das System austricksen zu können …
Der Dämon der Bewegung
Szygon, ein erfolgreicher und im Leben stehender Geschäftsmann, unternimmt unbewusst „pathologische Fluchtversuche“ – er wacht in einem Zug auf, ohne zu wissen, wie er dorthin kam, wohin der Zug führt oder wie lange er bereits unterwegs ist. Niemals fährt er den gleichen Weg; dabei führt ihn die Bahn oft bis nach Italien oder Frankreich. Bei diesem Trip jedoch fühlt er sich von einem pedantischen Schaffner verfolgt, in dem er bald eine bösartige paranormale Entität vermutet.
Lokführer Grot
Intro: „Vor der Fahrdienstleitung in Brzana erreichte den Stationsvorsteher in Podwyże eine Meldung folgenden Inhalts: ‚Achtgeben auf Eilzug Nr. 10! Lokführer betrunken oder geistesgestört.‘“
Besagter Zugführer hat eine kleine Zwangsstörung, die bald extrem absurde Formen annimmt. Humor und Tragik perfekt ausbalanciert, bis selbstverständlich irgendwann die Stimmung kippt. Die Geschichte hat ein tolle Dynamik, die der Manie des Lokführers entspricht und gleichzeitig ein einem Beinahe-Bewusstseinsstrom seinen Enthusiasmus / Befürchtungen miterleben lässt.
Signale
Ein nächtliches Gespräch zwischen alten Eisenbahnern, in dem es um ein ungewöhnliches Geständnis bzw. die Gabe einer Vorhersehung geht. Die nur vier Seiten umfassende Story ist außerordentlich dicht und melancholisch; sie vermittelt eine umfassende Tragik, die andere Autoren nicht auf 300 Seiten erreichen.
Ultima Thule
Eine Bahnlinie, die durch ein unwegbares Gebirgsland führt und erzwingt, dass sich die Wärter mehr über den Morseapparat als persönlich verständigen. Zwei von ihnen sind seit langem eng befreundet und besuchen sich oft. Eines Tages ist derjenige, der am weitesten im rauen Gebirgsland wohnt, seltsam melancholisch. Sein Freund verlässt ihn mit einem unguten Gefühl, dann wird spät nachts eine Reihe von Warnungen gemorst …
Einige von Grabińskis Geschichten wurden verfilmt, darunter "Ultima Thule" (Holger Mandel, DE 2001, 19,44‘) und die auch hier enthaltene Vampirgeschichte „Szamotas Geliebte“ zweimal (wieder von Holger Mandel, DE 1999, 16,35‘: und als Evil Streets von Joseph Parda, USA 1998, 72‘).
Fazit: Ist schwierig, weil sich die Stories so stark unterscheiden:
10 von 10 für die Züge und 5 von 10 für alle anderen.
Ich habe mich für dieses wunderschön fiese Cover entschieden, es gibt die Bahngeschichten aber auch extra, u.a. eben bei der Suhrkamp Phantastik-Reihe.