Claude Seignolle: Marie, die Wölfin
Broschur, 216 Seiten. Aus dem Franz. von Michael Mosblech. Nachwort von Irene Martschukat.
DuMont’s Bibliothek des Phantastischen, hrsg. von Frank Rainer Scheck. DuMont Buchverlag. Köln 1991
Inhalt
„Wilde Landschaft“ oder „Geheimnisvolles, wildes Land“ – so kennzeichnen Reiseführer die Sologne in der Mitte Frankreichs. Irgendwo in dieser urwüchsigen Gegend liegt das Anwesen Les Bâtards, das von den Ribauds bewirtschaftet wird. In einer Winternacht erhält die Familie Besuch von einem mysteriösen Wolfshirten, der für seine Tiere und sich Speisen verlangt. Der Gast zeigt sich erkenntlich und verleiht dem Kleinkind der Ribauds, Marie, die Gabe Wolfsbisse zu heilen. Diese Gabe wird ihr später als junge Frau zum Verhängnis, stachelt sie doch den Aberglauben der Landbevölkerung an. Schlimmer noch als dieser erweist sich aber die Eifersucht des Nachbarsjungen Baptiste Grodafieu. Erfolglos buhlt er um Marie, die ihr Herz an Martin, den Sohn des Verwalters, verloren hat. So macht sich Baptiste Angst und Irrglauben zunutze, um gegen Marie und Martin zu intrigieren. Jene weiß sich schließlich keinen anderen Rat mehr, als in einer mondhellen Nacht am Kreuzweg den Teufel selbst herbeizurufen …
ZitatDie Erscheinung antwortet mit jenem teuflischen Lachen, das eines der Merkmale des Satans ist; ein schwachsinniges, grauenvolles Lachen, furchterregend, kalt wie ein Grab, laut und leiser werden wie ein Schluchzen. (S. 162)
Claude Seignolle (1917 – 2018)
Neben Marie, die Wölfin (Marie la Louve) gibt es noch genau einen anderen Roman des Autors auf Deutsch: Die Gezeichnete (La malvenue); ein dürftiges Ergebnis für einen innerhalb der jüngeren französischen Phantastik nicht unbekannten Namen. Das vorliegende Buch sowie die Informationen in der einschlägigen Sekundärliteratur platzieren Seignolles Werk wesentlich im Subgenre des „Folk Horror“. Ein Feld, das ihm – der sich mit Volkssagen und Märchen beschäftigte – also nahe lag. Angeblich will Seignolle dem Satan selbst begegnet sein, eine Begegnung, die gewiss auch zur Arbeit an seinen Les Evangiles du Diable von 1964 beitrug, einer Untersuchung des Teufels im französischen Volksglauben.
Meinung
Marie, die Wölfin ist alles andere als ein Werwolf-Schocker und hat mit der monströsen Drastik von Stephen Kings Das Jahr des Werwolfs oder Filmen wie Wolfen und American Werewolf wenig gemein. Nur sparsam bedient sich Seignolle der phantastischen Elemente und evoziert sein Unheil vorrangig durch soziale Konflikte. Wohl beruft er sich auf ein traditionelles Konzept von „Gut und Böse“, doch scheinen Macht und Einfluss seiner Dämonen Grenzen gesetzt zu sein. Der unheimliche Führer der Wölfe mag übersinnliche Fähigkeiten besitzen – unsterblich ist er deswegen nicht. Gruseliger Höhepunkt des Romans ist Maries Beschwörung des Teufels, die überzeugend, ohne Effekthascherei oder Klischees, geschildert wird. Soweit in der Übersetzung zu beurteilen, bedient sich Seignolle einer einfachen, fast kargen Sprache, die gut zu seinem bäuerlichen Milieu passt. Während die Pächter hart arbeiten müssen, frönt der Besitzer der Höfe, Monsieur de Gardettes, seiner Leidenschaft: der Archäologie. Die Darstellung dieses fanatischen Hobby-Gräbers ist nicht frei von Humor, indes seine Funktion wohlbedacht und im Schlusskapitel führt Seignolle all seine Fäden grandios zusammen.
Vier von fünf Daumen: