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J. Sheridan Le Fanu: Grüner Tee – Vier unheimliche Geschichten
Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1974. Ullstein. 158 S.
Mit 59 Illustrationen nach Zeichnungen von Edward Ardizzone
Die Storysammlung ließe sich auch gut mit „Schuld & Sühne“ untertiteln, denn diese vier Geschichten ranken sich alle um eine alte Schuld, wobei die Protagonisten mal mehr oder weniger sympathisch bzw. un/schuldig sind:
Grüner Tee (Green Tea)
Gemäß der – sicher puritanischen – Idee, dass Getränke wie Kaffee oder Tee die Nerven überspannen, sieht sich Reverend Jennings von einem geisterhaften Affen verfolgt, der ihn vor allem im Gebet und bei der Predigt anzugreifen scheint und Jennings Nerven zerrüttet. Der Geistliche sieht sich bald außerstande, ein normales Leben zu führen.
Der ehrenwerte Herr Richter Harbottle (Mr. Justice Harbottle)
Harbottles Kreuzverhöre brechen jeden Schuldigen und scheinen sogar Unschuldige zu Geständnissen zu zwingen. Der sarkastische und sadistische Lebemann sieht sich eines Tages jedoch vor ein paranormales Albtraumgericht gestellt, bei dem sein höllischer Doppelgänger den Vorsitz hat. Die Geschichte hat mich irgendwie an Charles Dickens erinnert.
Junker Tobys Testament (Squire Toby’s Will)
Zwei Brüder – ein Krüppel und ein Schönling – streiten um das Erbe ihres grausamen Vaters, wie es scheint, über den Tod hinaus. Wie auch in anderen Geschichten anklingt, spielt Le Fanu hier mit den in der Antike und dem Mittelalter beliebten Verbindung von Physiognomie und Psyche, wobei er allerdings einen neuen, innovativen Twist hineinbringt.
Der Verfolger (The Familiar)
Kapitän Barton ist die einzig grundsätzlich sympathische Hauptfigur im ganzen Buch. Er ist seelisch stabil, tolerant, modern, und ein aufmerksamer Verlobter, der seine junge Partnerin als gleichwertig behandelt. Wie der Reverend in Grüner Tee wird Barton von einem übernatürlichen, hasserfüllten Wesen verfolgt, der sich selbst „Späher“ nennt, und die Gestalt eines verwachsenen Ausländer hat. Über den längsten Teil der Geschichte scheinen sich die Todesdrohungen und Verwünschungen des Verfolgers an den falschen Adressaten zu richten …
Die Sammlung hat Elemente, die typisch für die Gothic Tales waren: Wahnsinn, Halluzinationen, dunkle Familiengeschichten und –wohnsitze, und eben klassische Geistererscheinungen. Auffällig oft enden die Geschichten in einem Suizid, was sicher für das Publikum des frühen 19. Jahrhunderts ein echter Schockfaktor war. Sehr modern sind die Beschreibungen der psychischen Zustände (Angst, Verzweiflung und tatsächlich klinische Depression), die in einer bewundernswert intensiven und realistischen Form den Hauptteil der Geschichten und den eigentlichen Schrecken ausmachen.
Besonders reizvoll und faszinierend fand ich die Einblicke in den damaligen Alltag, etwa, dass zwei Herren zusammensitzen und nach dem Butler klingeln, damit er ihnen die Kerzen anzünden käme – sicherlich aus dem Untergeschoss, wo doch der Hausherr sicher ein paar Streichhölzer irgendwo im Zimmer zu liegen hatte. Dass Briefe per Kutsche/Boten überbracht werden, Gas- und Kerzenlicht auch nachts auf den Straßen die einzige Lichtquelle darstellte, es kein Telefon (schon gar kein Internet, Handy …) und damit keinen schnellen Kontakt zu Bekannten bzw. überhaupt der Außenwelt gab, dass Legenden und Hörensagen oder Gerüchte nicht so einfach nachgeprüft werden konnten und dass die soziale Kontrolle (ein Gentleman zeigt keine Blöße oder gar Angst) so viel stärker war als heute macht für mich die eigentliche Spannung in diesen Geschichten aus. Dabei wurde mir mal wieder klar, wie schwer es ist, eine postmoderne Horrorgeschichte glaubhaft zu konzipieren.
Fazit:
8 von 10 Punkten. Abzug für die – zumindest in diesem Band – Gleichförmigkeit der Themen bzw. Grundplots und für die Angewohnheit, wild und ohne ersichtlichen Grund (außer, dass dem Autor es so besser passte) in den Erzählperspektiven springt: von auktorial / eingeschränkt personal zur 1-Person, die plötzlich über keinerlei Insiderwissen mehr verfügt … etc. und das alles mitten im Satz gewechselt, nichtmal zwischen Kapiteln. Das hat schon einen kleinen billigen Touch, den ich bei Le Fanu niemals erwartet hätte, und der für mich einen Teil der Spannung zerstört hat.