Disney: Die missionarische Traumfabrik. Essay von Georg Seeßlen

  • Anlässlich der Ausstellung im Olympiapark in München zum 100-jährigen Gründungsjubiläum der Disney Comapagnie: ein Essay von Georg Seeßlen in der Zeit (der Autor wurde auch schon hier im Forum gefeatured: Romantik & Gewalt).


    Ich sage mal: eine kritische Würdigung, die durchaus nicht die Ecken und Kanten dieses Riesenbetriebs verschweigt. Ein Betrieb – anders kann ich es mir fast nicht denken – der wohl bei uns allen Spuren hinterlassen hat. Erst am Samstag unterhielt ich mich mit einem Gleichgesinnten über die legendäre Übersetzerin Dr. Erika Fuchs. Dann fiel mir ein, dass ich mir vor einigen Monaten aus einer Laune heraus ein Lustiges Taschenbuch an der Supermarktkasse kaufte, welches eine Comic-Adaption von Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer brachte.


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    Das Kernstück des Disneyanismus, natürlich, ist der American Way of Life. Die Entstehung einer neuen Gesellschaft aus dem Geist der Rebellion, dem Geist der Pioniere, dem Geist der demokratischen und ökonomischen Gemeinschaft. Genauer gesagt: Disney stand für die Essenz der weißen, angelsächsischen, protestantischen Familie mit zugleich traditionellen und progressiven Vorstellungen und Rollenmodellen. Im heißen Herzen der Disney-Mythologie steckte die industrielle Wiederverzauberung des Alltags, die Transformation des Märchens aus Europa in die Fantasy aus der angelsächsischen Tradition, das Wunder als Antwort auf die Trivialisierung des Fortschritts.

  • Danke, lieber Arkham Insider Axel , der Artikel hat sehr spannende (und mir neue, was aber nix heißen muss) Aspekte und besonders diese Micky-Mouse-im-Schützengraben Seite war mir unbekannt. Und ich hatte gar nicht auf dem Schirm, dass Donald Duck auch Disney ist *hust*.

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    Im Nicht-so-Guten gesagt: Der Disneyanismus macht die Welt zur kulturellen Beute des Amerikanischen.

    Das würde ich so als - absolut nicht überraschendes - Fazit rausziehen. Diese Märchenverwurstungen, egal ob spießig oder sozialpolitisch, die eben alles in kräftige, fröhliche Farben kleiden, die ich inzw. nur noch als sensorischen Overkill empfinde. Fünfjährigen wird es da wohl kaum möglich sein, da wegzugucken. Da mitteleuropäische Kunstmärchen selbst noch eine starke konservative / präskriptive Ausrichtung haben, geht die Kombi sogar noch an, aber wenn es um Alice in Wonderland geht - Proto-Surrealismus, Individualismus und Anarchie - hört für mich der Spaß irgendwie auf.


    Ich hab ein ähnlich gespaltenes Verhältnis zu Disney wie es der Journalist da beschreibt, u.a. weil ich fast 20 Jahre lang für Buena Vista / Disney Marketingreports für Filme erst übersetzte und dann schrieb, und wir für diese Doppelfirma Testscreenings im Kino machten (das 10 Jahre). Ich hab alle Filmfirmen (auch 20th Cent. oder die deutschen X-Films) als sehr sympathisch erlebt, aber Buena Vista / Disney 'put their money where their mouth is' sozusagen: dort herrscht eine absolut individuelle, lockere und dabei extrem professionelle Einstellung, Nicht-Hetero-Leute z.B. sitzen in Top-Positionen etc.


    Ich rechne Disney immer noch hoch an, dass sie damals einen extrem weirden (und antikolonialen genderbending) Film in Deutschland zumindest als traditionellen Weihnachtsfilm brachten (damals zum ersten Mal, sowas gabs sonst nur fürs Sommerloch), nämlich Lilo & Stitch. Es ist der einzige Disneyfilm, den ich wirklich mag - er ist verrückt, wild, witzig, setzt das Andere - auch noch ein AlienMonster-Gefängnisflüchtling! - als Hauptprotagonisten ein und kriegt es ausnahmsweise hin, das menschliche Andere (alleinerziehende Hawai'ianische junge Mutter + frecher Aussenseiter-Tochter vs US-amerikanische Bürokratie & Kulturimperialismus) wirklich sinnvoll zu kombinieren, ohne dass das eine das andere auscancelt. Ach ja: Und Elvis!

    Klar, es gibt eine love story, es gibt eine Wahnsinnsladung an Kitsch, mal wieder osteuropäische Akzente als 'alien', es geht doch nur um "Familie" und man kann debattieren, inwieweit Hawai'i auch nur Klischee ist, aber hey: Es ist Disney, nicht der Discovery Channel. Jedenfalls ist Lilo & Stitch ein extrem ungewöhnlicher Film - sogar, wenn man seine Produktion bei Disney ignoriert -, der sein kleines, knuddelig-gefährliches Monster auch am Ende nicht zähmt.

    Lilo & Stich ENG - Wow, San Francisco!
    Funny Scene lol
    consent.youtube.com


    Zurück zum Artikel: Mit der Disney-als-Religion Argumentation erweist sich der Schreiber einen massiven Bärendienst. Damit verdreht er (obwohl er auch das - leider nur in einem Nebensatz - vernachlässigend anspricht) letztlich die Verhältnisse: Die US-amerikanischen Christen, vor allem die Evangelisten, führen seit Jahren einen Kulturkrieg gegen Disney, der inzwischen spekulativ-anmutende Ausmaße angenommen hat und sich immer stärker Verschwörungsnarrativen bedient. Ich hab den Überblick verloren, aber Disney ist eine satanistische Geheimorganisation, die mit ihren genderbending/non-binary/non-straight und non-white Figuren ihre saubere ArierChristenbrut verführen und alle in die Hölle bringen will. Es geht so weit, dass im Disney-Logo irgendein Illuminati-Dings / Nummer des Tieres gesehen wird usw.


    Das Ganze ist keine winzige, skurrile Splittergruppe, sondern tatsächlich in den USA eine politische Bewegung. Ihr Schwachsinn wird verbreitet, u.a. über diese unsäglichen Moms-Net-Seiten, TV-Kanäle, in den Kirchen selbst, Blogs, YT-Kanäle (wie CBN hier direkt zu einer Disney-Serie, die CNN kopieren), es gibt Klagen gegen Schulen und an Gerichtshöfen, library raids, Boycott und öffentliche Verbrennungen von Büchern und Merchandise. Das Ganze mixt sich mit Anti-Vaxxer-, Flearthers-, Incel-, Anti-Abtreibungs-, Trump-supporting Kreisen und allg. Wissenschaftsleugnern, wie die "Christians Against Dinosaurs"-Bewegung, die auch an archäologische Fundorte reist und dort Fossilien sowie Abdrücke zerstört. (Ich denke mir das echt nicht aus! [LiZ] ).


    Äh sorry, I got carried away a wee bit ... Jedenfalls ein interessantes Thema, aus dem sicher noch einiges rauszuholen ist. ?( Ein schöner Artikel z.B. zur Graceland-Disney Connection hier.