Paul Verhoeven: Benedetta (2021)

  • Benedetta

    Regie: Paul Verhoeven

    Frankreich / Niederlande 2021. Vertrieb: Pathé

    Produzenten: Saïd Ben Saïd, Michel Merkt, Jérôme Seydoux.

    Kamera: Jeanne Lapoirie - ein sehr schönes, ausführliches Interview mit ihr zum Film hier (Engl.)

    Frz. mit Engl. UT. Länge: 131'

    Drehbuch: Verhoeven und David Birke. Nach dem historischen Sachbuch Immodest Acts: The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy von Judith C. Brown.

    Mit Virginie Efira, Daphne Patakia und Charlotte Rampling

    Trailer

    Trailer dt.

    Interessante Statements; Cannes Pressekonferenz mit voller Cast & Crew (Engl. 37,2')

    Kinostart Deutschland: 2.12.2021. Uncut, FSK 16



    Ich ziehe den Film mal aus dem Night Visions-Faden in einen eigenen: Gestern auf dem Festival geschaut und mich wirklich ganz wunderbar unterhalten gefühlt.


    Beim Thema Nonnen ist es - genauso wie bei Hexen - fast unmöglich, Klischees zu umschiffen: die devote Gläubige, die geile lesbisch-bisexuelle Rebellin, die prüde Spießerin, die Sadistin, die machtgierige Intrigantin, die vom "Bösen" besessene "Sünderin", scheinheilige Betrügerin, Opfer von Kirche, Staat und/oder Männern generell --- es gibt wohl allein durch das Setting einen begrenzten Figurenentwurf. Ganz vermeidet auch Benedetta dies nicht, doch: Hier werden ausgesprochen starke, komplexe Protagonistinnen geschaffen, die alle ihre individuelle Geschichte, Ambivalenzen und nachvollziehbare Beweggründe haben. Keine ist nur intrigant, sexy, Opfer oder Täterin. Jede reagiert auch auf Umstände, Bedrohungen und Gelegenheiten, ist keine Pappfigur, sondern realistisch individuell und flexibel.


    Plot:

    Im Intro wird gezeigt, wie Bendetta als Kind zum Kloster gebracht wird. Ihr Tross wird von einer Gruppe Banditen überfallen, die das Mädchen mit frechen Sprüchen und - offenbar - einem Fingerzeig ihres Gottes abwehren kann.

    Als Erwachsene ist sie sowohl intelligent und selbstbewusst, aber auch gut ins Kloster integriert und geschätzt. Ihre Visionen von Jesus als ihrem Erlöser bzw. eher einem sprichwörtlichen Weißen Ritter setzen sich fort, nach und nach, aber zum Unmut der bodenständig-pragmatischen Äbtissin (Rampling), erlangt sie den Ruf einer Heiligen. Anfangs lässt der Fim noch offen, ob diese paranormalen Erscheinungen vom Zuschauer als plotinterne Realität oder Halluzination gesehen werden sollen. Dank Benedettas Eingreifen nimmt das Kloster eine vom Vater vergewaltigte und geprügelte junge Frau auf - die beiden teilen einen unbedingten Unabhängigskeitswillen, werden Vertraute und schnell auch Geliebte. Zur gleichen Zeit beginnt Benedetta, mit selbstzugefügten Stigmata ihre Position auszubauen - sie wird als Äbtissin eingesetzt und ein interner Kampf um Wahrheit, Machtvorherrschaft und Selbstbestimmung entbrennt, von dem keine der Schwestern des Klosters oder sogar die Kirchenobrigkeit im fernen Florenz unbeteiligt bleibt. Im Land bricht die Pest aus und Benedetta soll schließlich auf den Scheiterhaufen, doch da hat die Inquisition die Rechnung ohne den Wirt gemacht ...


    Benedetta ist spannend, hat einige unvorhergesehene Wendungen, Drama ebenso wie Witz. Besonders ihre Jesuserscheinungen, die immer hübsch an eigene Bedürfnisse angeglichen sind, sorgen für Comic Relief: Jesus als quasi-BDSM Verführer am Kreuz, der ehrbare Ritter in Weißer Rüstung, immer einen markigen Spruch auf den Lippen. Hier gibts auch deftige Gore-Momente.

    Verhoeven zeigt die Heiligenvisionen - immer haarscharf am Trash vorbei - ähnlich wie Exorzistenfilme Besessenheit vom Teufel darstellen ( Vincent Voss - vielleicht etwas für deine Rechercheliste?), interpretiert diese aber stets gemäß Benedettas positiver Sicht.


    Schon im Intro erinnerte mich Benedettas intelligente Schlagfertigkeit an Jeanne d`Arcs Haltung wie sie in den Prozeßakten belegt ist - und später im Film wird Jeanne sogar genannt. Verhoeven hat ganz offensichtlich seine Figur auf dem historisch belegten Vorbild einer anderen rebellischen Gläubigen ausgelegt, was dem Film ausgesprochen guttut, ihm ein Stück Authenzität verleiht und nicht den Eindruck von völlig aus dem Register fallenden 21.-Jh. Marketingsprüchen erweckt wie u.a. Vikings und GoT.


    Neben der Titelrolle strahlt besonders Charlotte Rampling, die ich vor wenigen Wochen in einer eigentlich identischen Rolle sah. Anders als in dem toten, mit Pseudodramatik überfrachteten Dune, der seine Cast wie Schachfiguren durchs Setting schiebt, kann Rampling hier subtil feinste Reaktionen zeigen. Mit einem halben Zwinkern, Anspannung der Lippen oder einer winzigen Geste drückt Rampling wunderbar die ganze Zerrissenheit und Integrität ihrer Figur aus.


    Die verdammte Klemmschwester Vladimir Putin untersagte eine Freigabe ab 18 und erklärte den Film in Russland als illegal. Wie schon seine Probleme mit Pussy Riot zeigen, sind sexuell selbstbestimmte Frauen und dazu noch gleichgeschlechtliche Liebe etwas, mit dem er absolut nicht umgehen kann.

    Dabei ist imA Benedetta zusammen mit Black Sails die einzige Filmproduktion, die sowohl realistischen wie auch sexy Lesbensex zeigen. Nicht zu knapp und hübsch detailliert - allerdings im Sinne eines show, don't tell und nicht Selbstzweck.


    Alles übrigens gefilmt in wie 35mm-anmutenden, opulenten Bildern.


    Vielleicht wenig überraschend präsentiert Verhoeven starke, sexy Frauenfiguren wie sie in den 1980ern entstanden und mit dem Repräsentationszwang / den engen Schablonen sozialpolitischer Bewegungen der 2000er nichts gemein haben. Eine feministische Sicht, die ich in dieser Form kennenlernte und heute noch teile. Man muss kein Interview hören und keine Pressephotos anschauen, um zu merken, dass am Set eine ungeheuer entspannte Atmosphäre herrschte (im oben verlinkten Interview und der Pressekonferenz erzählt die Crew, dass sie ihre Figuren mitgestalten konnten und jede Meinung gehört wurde). Allen wird auch Zeit gegeben, Szenen voll auszuspielen, es gibt nicht nur Action/Reaction-Shots wie bei Netflix- oder Hollywood-Produktionen gewohnt.


    Lustigerweise zitiert der Film (negativ) Leviticus, dessen Bibelsegmente zu den brutalsten und inhumansten in dem ohnehin schon fragwürdigen Buch gehören, und der im Programm darauffolgende stop-motion Film Mad God verwendet ebenfalls Leviticus im Intro.


    Der Film bekam für Finnland sehr unüblichen Jubel und (sitting) Ovations. Falls das nach meinem kleinen Roman hier =O noch nicht deutlich ist: Fazit: 10 von 10 rebellischen Nonnen.