Arthur Holitscher – Adela Bourkes Begegnung

  • Arthur Holitscher – Adela Bourkes Begegnung

    Illustrierter Pappband, 407 Seiten

    S. Fischer Verlag. Berlin 1920



    Arthur Holitschers Roman Adela Bourkes Begegnung „entnimmt einem bekannten Kriminalfall tiefste okkulte Erkenntnisse.“ — So urteilte 1921 eine zeitgenössische Literaturgeschichte. Tatsächlich ist das Buch ein ungewöhnlicher Mix aus Sozialroman, Gruselgeschichte und Krimi.


    Inhalt

    Der Londoner Arzt Walter Garrat lebt mit seiner Frau Belle in einer Ehehölle. Auch seine berufliche Situation ist prekär: Garrats Vertrieb für Kurpfuschermittel wird in der Presse scharf kritisiert. Trost findet er bei seiner jungen Angestellten Cora Stratton. Um sich Luft zu verschaffen, fliehen beide aus London und reisen ziellos umher.


    Derweil wird Belle Garrat tot aufgefunden, vergiftet. Sofort stehen Walter und Cora unter Verdacht, eine fieberhafte Suche nach dem Paar beginnt. Abseits der Öffentlichkeit nimmt auch eine unscheinbare Person Fühlung mit den Flüchtigen auf: Adela Bourke. Die geschiedene Frau lebt mit ihrer Tochter Sheila und deren Katze „Feuer“ in einer Londoner Pension. Vor Jahren hatte sie einen kurzen Flirt mit Walter Garrat. Ein nur sekundenlanges, zufälliges Zusammentreffen auf der Straße mit ihm frischt die Erinnerung wieder auf. Kraft seelischer und gedanklicher Fernwirkung dringt sie jetzt zu Walter durch, der sich bereits auf dem Weg nach Kanada befindet. Das telepathische Wechselspiel bleibt nicht folgenlos. Während sich das Netz um Walter und Cora immer weiter zuzieht, fühlt sich Adela in zunehmendem Maß mitschuldig an der brenzligen Situation.


    Eindruck

    Dass eine Blitzbegegnung ausreicht, um komplexe seelische Vorgänge zu aktivieren, ist die spektakuläre Aussage des Romans. In dessen Zentrum steht die Frage nach der Schuld, der individuellen und der allgemeinen. Während Adela sich in den Glauben hineinsteigert, sie sei für Walter Garrats Lage verantwortlich, fällt eine sensationsgierige Öffentlichkeit bereits das Urteil über den abgängigen, vermeintlichen Mörder.


    Adela Bourke wird als instabile Persönlichkeit präsentiert. Sie schließt Bekanntschaft mit dem mystisch veranlagten Mr. Lucas, der sie in metaphysische Diskussionen verwickelt. Zusätzlich gerät sie unter den Einfluss sozialrevolutionärer Agitation. Das führt dazu, dass sie der Familie eines politisch Verfolgten Asyl gewährt. Doch egal, in welchen Kreisen sich Adela bewegt – alle Welt, und sie selbst am stärksten, nimmt Anteil an der Jagd auf Walter Garrat.


    Merkwürdig emotionslos erscheint Adelas Beziehung zu ihrer Tochter Sheila, einem ernsten, leicht unheimlichen Kind, das mit sich selbst und „Feuer“, der Katze, beschäftigt ist. Dieses Tier aber, das eines Tages spurlos verschwindet, dünkt Mr. Lucas als böser Geist. Das Geraune von der Gefahr, die angeblich von der dämonischen Katze ausgehe, verfehlt seine Wirkung auf die labile Adela nicht.


    Zitat

    Sie verstummte, wurde unruhig. Ihr war’s, als habe sie plötzlich den schrillen, rollenden Kehllaut des Tieres, der wie Menschenschrei anhub und wie ein leis aufschnarchender Seufzer abschwoll, vernommen. Aber das konnte ja nur ein Spiel ihrer aufgeregten Sinne sein; niemand unter den Anwesenden schien es gehört zu haben.

    Fazit

    Der Roman von Arthur Holitscher (1869 bis 1941) – den Thomas Mann als larmoyanten, „schwärmerischen Edelkommunisten“ verspottete – sitzt zwischen den Stühlen. Als soziale Dichtung lässt er sich schwer einordnen, dazu ist er zu versponnen. Für ein Werk der Phantastik hält er sich in wesentlichen Punkten zu bedeckt, wenngleich er mit dem Esoteriker Mr. Lucas und den Vorgängen um die Katze „Feuer“ wirkungsvolle Elemente enthält. Die Zerrüttung der Protagonistin, die unter einem bohrenden Schuldgefühl leidet, ist plausibel dargestellt. Nicht zuletzt durch die Frage, was aus Walter Garrat seiner Freundin Cora wird, bleibt die Geschichte spannend.


    Obwohl das Buch wie gesagt etwas sperrig ist, hat es mich überzeugt. Ich gebe 4 von 5 Daumen.

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    Bild: Kalenderblatt aus einem Werbekalender der Antikamnia Chemical Company (1897)

    Postskriptum

    Das von Holitschers Romanfigur Dr. Walter Garrat vertriebene „Antikamnia“ gab es wirklich. Auch die medizinische Kritik an dem nicht unbedenklichen Schmerzmittel, das in verschiedenen Varianten von der Antikamnia Chemical Company vertrieben wurde, ist real.