Harlan Ellison: Deathbird Stories

  • Harlan Ellison: Deathbird Stories

    Dell Publishing NY, 1973

    346 Seiten


    Sammlung mit 19 Kurzgeschichten, die irgendwo zwischen Dunkler Phantastik, SF, Weird, (Cosmic) Horror, Expressionismus, Noir und dezent bei Fantasy einzuordnen wären. Jede Geschichte dreht sich - teils direkt, teils eher abstrakt - um einen Gott der Moderne: einen der Maschinen, der Steine, der Großstadt, des Glücksspiels, des Schmerzes ... In vielen dieser Welten - auch denen, die nach Alltag aussehen - existiert Magie. Es gibt neben den Göttern (oder in Personalunion) Vampire, Ghouls, Schattenwesen, Totenvögel, Minimenschen in mikroskopischer Größe, ghosts in the machine (u.a. in Autos) - auch hat eine Frau auf der Rückbank eines Autos Sex mit ebendiesem ... Titane lässt grüßen.


    Ellison schreibt mit sehr starken auktorialen und auktorial-personalen Erzählern, keine Rollenprosa, kein Deep Point of View wie in heutigen Erzählungen häufig verwendet. Manchmal ist die Stimmung eher hardboiled, rau; manchmal klassisch dramatisch mit viel Poesie und Symbolik, durchaus mit schwarz-bitterem Humor durchschossen. Ich musste an diese Fleischlichkeit in Frazettas Kunst denken und an Barnabas Calders Beschreibung von Brutalismus-Bauten, obwohl die meist kantig und nicht so organisch sind: "muskulös". Genau so lesen sich diese Geschichten für mich. Nicht zu verwechseln mit 'chauvinistisch', sondern einfach selbstsicher, raumgreifend.


    Selbst mit unzähligen gelesenen Phantastikbüchern konnte ich bei keiner Geschichte sagen, wie sie nach dem Intro verlaufen, geschweige denn, wie sie enden würde. Mit landläufigen Annahmen und Klischees kommt man keinen Deut weiter: Eine Frau allein im dünnen, regendurchnässten Kleidchen, ohne Unterwäsche, deren Wagen in einem entlegenen Kaff defekt stehenbleibt und dort sind nur drei schmierige Tankstellen-Rednecks, führt weder zu einer Szene mit sexueller Gewalt, noch zu dem erwarteten Machtgefälle. Es gibt starke Frauen und schwache Männer, auch das umgekehrte; Ellison geht hier nicht nach didaktischen Prinzipien vor und schafft damit extrem interessante Figuren.


    Der Spruch "Erwarte das Unerwartete" trifft imA voll auf diese Geschichten zu. Eine überbordende Phantasie, schräge Figuren, wunderschön dramatische oder dystopisch-postapokalyptische Settings, die Volodines Aschewüsten des Bardo vorwegnehmen könnten. Trotzdem hab ich bei den verrückten Twists und Settingswechseln nicht den Eindruck, Ellison habe daran gedacht, wie er den Leser überraschen könnte und was am wenigsten antizipiert werden könnte - ich hab gar nicht den Eindruck, er hätte an eine mögliche Leserschaft gedacht, sondern eben geschrieben, wie die Geschichte für ihn stimmig war. Denn durchkonzipiert lesen sich sich auf jeden Fall.


    In einigen Texten gibt es Beschreibungen von Schmerz oder/und Bodyhorror, bei denen sich mir wirklich die Zehen gekrümmt haben (einmal konnte ich fast nicht weiterlesen - erinnere mich nicht, wann das zuletzt passierte). Dabei bleibt Ellison ganz sachlich und knapp, teils sogar abstrakt umschreibend, was alles noch schlimmer macht. Interessant auch, dass er durchaus viele Adjektive verwendet - allerdings häufig in Reihe, ohne Substantive und am Satzende, was nicht billig oder anfängerhaft, sondern erstaunlich bildhaft und 'musikalisch' klingt.


    Meine Favoriten sind: "Shattered Like a Glass Goblin" (erinnerte mich vom Twist - nicht vom Plot - an Lovecrafts "The Outsider"), "Basilisk" (beginnt als Kriegstory im Dschungel und rutscht plötzlich ins Mythisch-Paranormale, auch eine klare Ansage gegen häusliche Gewalt), "Corpse" (eine kleine fiese Anti-Auto-Geschichte ... oder vielleicht nicht), die Titelgeschichte "Deathbird" (mixt ziemlich volodinsek das Menschliche mit dem postapokalyptisch Erhabenen) und ganz vor allem "Neon", das völlig verrückte, wunderbare Alice-in-Wonderland-artig absurde Szenen hat, die schon hart am Surrealismus vorbeischrammen.


    Als ich mit knapp 20 Jahren Barkers Books of Blood las, war ich ähnlich geflasht, inzwischen sehe ich das aber kritischer, sehe oft eine fast spießig-christliche Moral durchscheinen, die in seinen späteren Büchern deutlich wird. Ellison hat eine ähnliche Art des Horrors, und eine ähnliche thematische Bandbreite, aber ohne eben die Restriktionen, denen Barker unterliegt.

    Sehr, sehr cool.


    "A Boy and His Dog" hat sicher auch Spaß gemacht und ein tolles Ende entworfen (und siehe bei dem Filmplakat ganz unten das Jahr, in dem die Geschichte spielt *gn), aber die 10 Jahre später veröffentlichten - und vermutlich auch eben später verfassten - Deathbird Stories haben einen wesentlich reiferen, ausgefeilteren und stärker poetischen Stil, ohne etwas von der Härte und Direktheit einzubüßen.


    Großer Suchtfaktor, ein eBook liegt schon auf der Festplatte ... und auf der Buchmesse werde ich nach antiquarischen Ausgaben mit ähnlich psychedelischen Covern schauen. Als Soundtrack lief: The Devil's Blood, EP Come, Reap.