Klappentext:
"Die Welt im 21. Jahrhundert: Eine neuartige und tödliche Seuche breitet sich aus. Sie hat verheerende Auswirkungen auf die Menschheit, auf Wirtschaft und Politik. Über allen schwebt eine Frage: Was ist angesichts einer weltweiten Krise der öffentlichen Gesundheit zu tun?
Shelleys Roman von 1826, die allererste Dystopie der Weltliteratur, liest sich beklemmend gegenwärtig. Die Erzählung folgt Lionel Verney, der sich mit seiner Schwester und seinen Freunden zunächst in der jungen englischen Republik politisch engagiert. Sie machen sich auf nach Griechenland, und im Süden geraten sie erstmals in Kontakt mit einer neuartigen Pest, die sich nach und nach in Europa und Nordamerika ausbreitet. Bald herrschen in England apokalyptische Zustände. Den Freunden und ihren Familien bleibt nur die Flucht …"
Meine Meinung:
Als letztes Jahr die Neuauflage von Mary Shelleys "Der letzte Mensch" erschien, hatte ich mich sehr gefreut. Der Roman war bis dato nämlich nur in einer extrem gekürzten Fassung erhältlich. Andererseits war ich auch etwas genervt. Mitten in der Corona-Pandemie kramten plötzlich alle Verlage ihre alten Seuchen-Romane wieder raus, die zuvor niemanden interessiert hatten, und überfluteten damit den Markt. Die Seuche in der Seuche... aber es scheint funktioniert zu haben. Camus "Die Pest" führte immerhin wochenlang die Bestsellerlisten an.
Fragwürdiges Kalkül hin oder her, die erstmals vollständige Veröffentlichung von Shelleys 1826 geschriebener Dystopie kann nur als ein Gewinn betrachtet werden und mit etwas Abstand habe ich mich dieser nun auch endlich mal gewidmet.
"Der letzte Mensch" beginnt mit einem Zitat aus Miltons "Das verlorene Paradies", dem Lieblingsroman von Byron, Mary und Percy Shelley. Im ersten von drei Büchern/Teilen lernen wir dann die Protagonisten kennen: Lionel, Perdita, Adrian, Lord Raymond und Idris. Die zwei Frauen bleiben hier aber eher Randfiguren und hüten größtenteils brav die Kinder, während die Männer die Weltgeschicke lenken und Kriege führen. Gerade der Erzähler Lionel Verney ist dabei eine ähnliche Frohnatur, wie der permanent jammernde Doktor Frankenstein: "Wir sind nicht zum Vergnügen geformt; und sosehr wir auch auf den Genuss angenehmer Empfindungen eingestimmt sein mögen, so ist doch die Enttäuschung der nie versagende Steuermann unserer Lebensbarke, der uns unbarmherzig in die Untiefe lenkt". Wie wir nach circa 600 wirklich kleinbedruckten Seiten wissen, soll er mit seinem Pessimismus Recht behalten.
Bis dahin folgen besonders im ersten Drittel jedoch noch jede Menge Intrigen, Liebesdramen und Verrat, was vom Leser stellenweise doch etwas Durchhaltevermögen abverlangt. Neben den zwischenmenschlichen Problem geht es dabei auch immer wieder um Politik bzw. den Kampf der drei Männer gegen den steifen Regierungsapparat von London. Die Monarchie liegt schließlich gerade in ihren letzten Zügen und die Zeit ist reif für neue Ideen.
Die Handlung von "Der letzte Mensch" spielt übrigens im Jahre 2089. Wer aufgrund des Zukunftssettings jetzt aber einen Sci-Fi-Roman erwartet, dürfte schnell enttäuscht werden. Die Menschen fahren immer noch mit Kutschen durch die Gegend, schreiben sich Briefen und seit Goethe scheint es auch keinen wirklich nennenswerten Schriftsteller mehr gegeben zu haben. Soll heißen, die Zeit ist bis auf wenige Ausnahmen seit dem 19. Jahrhundert fast stehengeblieben.
Und auch mit klassischer Schauerliteratur hat "Der letzte Mensch" nichts zu tun. Höchstens in kurzen Traumsequenzen tauchen ab und zu mal ein paar Geister auf. Hauptsächlich widmet sich Shelley aber den Begebenheiten auf Schloss Windsor und dem britischen Parlament. Nach jeder Menge auf und ab, scheint für den Freundeskreis rund um Verney nach vielen Bemühungen und Rückschlägen dort auch endlich alles gut zu werden. "Wie glücklich waren sie in jener Nacht! Wie barsten sie beinahe vor Freude!"
Und dann geht die Welt unter.
(Bild von Michel Serre, 1720)
Es dauert jedoch über 200 Seiten bis das Wort "Pest" das erste Mal auftaucht, und dann nochmal 100 bis diese "wie ein Dieb in der Nacht" über die ganze Welt herfällt. Ab da wird die Handlung dann aber schnell sehr düster und hoffnungslos: Tod, Verderben, Selbstmorde... das kam damals nicht besonders gut an. Der Roman war Shelleys größter Misserfolg. Die Kritiken waren größtenteils vernichtend und Percys Vater dreht Mary nach der Veröffentlichung sogar kurzzeitig den Geldhahn ab. Die Autorin hielt "Der letzte Mensch" zeitlebens hingegen für ihr bestes Werk. Und auch Dietmar Dath, der für die Reclam-Ausgabe das Nachwort geschrieben hat, stimmt ihr da zu. Auf mich hatte es jedoch nie den gleichen Impact wie "Frankenstein" gehabt und daran hat auch diese Version nichts geändert.
"Der letzte Mensch" zu lesen ist oft anstrengend. Das liegt nicht mal so sehr an der altmodischen, bisweilen äußerst schwülstigen (aber gleichzeitig auch wunderschönen) Sprache, sondern am enormen Umfang dieses Epos, der einen mitunter schon etwas erschlagen kann. Warum Verney als Chronist des Weltuntergangs immer wieder so detailreich die Lebensumstände seiner Freunde beschreibt, wird zwar erklärt, spannend ist es für den Leser aber trotzdem nicht immer und häufig trübt es doch etwas das Lesevergnügen. Andererseits lässt uns der Roman einen wirklich tiefen Blick in Shelleys Psyche werfen und belohnt mit eindrücklichen Bildern des Zerfalls, des menschlichen Elends und einer Natur, die sich langsam wieder die Herrschaft über die Erde zurückerobert.
Auffällig ist auch wie oft Booten, Schiffen und das Meer in der Handlung auftauchen. Als Shelley den Roman schrieb war ihr Mann Percy aber auch gerate erst vor ein paar Jahren ertrunken. Lord Byron starb noch bevor sie "Der letzte Mensch" beendete. Mit Adrien und Raymond setzte sie den Beiden in ihrem Buch ein literarisches Denkmal. Der Erzähler der Geschichte erklärt, stellvertretend für Mary Shelley, so auch die umfangreiche Exposition und die vielen Abschweifungen: Durch das Schreiben dieser Anekdoten, konnte er seine Freunde kurzzeitig wieder zum leben erwecken (und das ganz ohne Elektrizität).
Auch für Shelley dürfte das Verfassen der Geschichte eine Art Trauerbewältigung gewesen sein, an deren Ende uns jedoch nur die absolute Hoffnungslosigkeit erwartet. Die Botschaft der Geschichte? Wir sind alle verloren und weder die Politiker noch die Mediziner können uns retten. Der Roman dürfte somit ein äußerst genaues Bild davon zeichnen wie sich Shelley damals gefühlt haben muss, nachdem jeder der ihr etwas bedeutet hat, gestorben war – Genau wie ihr Alter Ego Lionel Verney. Wie der letzte Mensch auf Erden.