Hey, Macarena ...
Cheddar Goblin Während des ersten "Kapitels" (bis sie sich auf der Treppe den Kopf stößt) dachte ich: Das mag wirklich der beste Film sein, den ich je gesehen hab. Danach fand ich ihn immer noch grandios bis toll und während der letzten 10 Minuten wünschte ich mir eine Fernbedienung zum Skippen.
Mag sein, dass es dem Publikum ähnlich ging, vor Filmstart war eine aufgekratzte Stimmung (auch diese zweite Vorstellung war ausverkauft), fünf, sechs Leute gingen bei der versuchten Abtreibung, aber zwischendrin gab es freundliches Kichern (Hocker-Mord, Dusche/Nippel-Piercing, "Wenn ich Gott für euch bin, ist er Jesus!" ...). Nur am Ende gab es plötzlich ungehaltenes Gemurmel und ernste Gesichter.
Der Reihe nach:
Zu recht eine Goldene Palme allein schon für Kamera & Schnitt anfangs. Mit einer Bildtiefe wie sonst nur bei einem 35 mm Film. Jede Einstellung ein Kunstwerk aus Frame, Farben, Position zu den gezeigten Figuren und deren knappe Aktionen (wie Alexia in dem CarDome die Zuschauer aus dem Weg schiebt, ganz dezent, aber mit einem Nachdruck, der schon Gewalt vermittelt) ... überhaupt, wie mit Raum und Bewegung umgegangen wird. Auch der Schnitt, kein Moment ist zu lang oder zu knapp. Sowas Kunstvolles, Mitreissendes, hab ich selten gesehen. Nix wirkt billig, künstlich provokant oder aber zu politisch korrekt, alles erschien mir überraschend-frisch, aber absolut folgerichtig für diese Figuren in dieser Welt. Und das Intro war schon ein kleines Kunstwerk für sich. (Dabei finde ich Autos eher uninteressant und hatte nie einen Führerschein.)
Der Film ist sehr 80er, nicht nur von der Bildsprache her. ( col.race ) Seit Mitte der 2000er sind nackte Körper grundsätzlich problematisch: per se Ausbeutung, Trigger für Gewaltopfer, Sexismus; nicht inklusiv genug für all jene, die eben nicht aussehen wie diese eine spezielle Schauspielerin. Wenn man aktuelle Filme und TV ansieht, könnte man meinen, Frauen würden beim Schlafen oder beim Sex Bügel-BHs tragen und das ist schon fast auf islamistischem Level angekommen, wo es heißt: Es wäre Frauen gegenüber respektvoll, wenn man möglichst wenig von ihren Körpern sieht.
Ich hab ein massives Problem mit dieser Entwicklung, weil es vermittelt, dass ein nackter Körper irgendwie 'un-okay' bzw. unnatürlich wäre und man den nicht anschauen sollte - oder wenn, es wenigstens nicht genießen. Also hab ich so gefeiert, dass es 'full frontal nudity' gab und Agathe Rousselle da einfach ohne Klamotten agierte, als hätte sie eben was an: selbstverständlich, ohne es mit Bedeutsamkeit zu überfrachten. (Vgl. Silje Reinåmo in Thale, die im gesamten Film nackt spielt und ähnlich bedrohlich wirkt, was man nach wenigen Minuten nicht mehr ungewöhnlich findet.)
Überhaupt ist das sexuelle Erleben ungewohnt individualistisch, klischeefrei - und ich meine nicht nur die Autoszene. Ich fand es insgesamt befreiend, spannend und begeisternd, wie Geschlechtsidentitäten (also sowohl biologisches sex wie auch soziales gender) sowie sexuelle Vorlieben dargestellt sind: folgerichtig für die jeweilige Figur, aber komplex, fluide; völlig jenseits gewohnter Zuordnungen von mainstream- wie pc-Seite.
Das sind Figuren, wie ich sie eigentlich in Filmen sehen will, nicht dieses aufoktruierte, fake LGBT/BLM-Getue wie bei Doctor Who bzw. der gesamten BBC und Hollywood. Obwohl ich pansexuell bin, aber selbst keinen gender trouble hab und auch keine klassische Männlichkeit darzustellen, sind das Identitäten und Probleme, in denen ich mich zuschauend absolut wiederfinden kann.
Agathe Rousselle - und später Vincent Lindon - spielen wirklich zum Niederknien. Auch schön, dass Vieles unausgesprochen bleibt: Alexias Problem mit ihren Eltern (wohl v.a. dem Vater, auch wunderbar gruselig dargestellt!), mit körperlicher Nähe / Intimität / Vertrauen, das Verhältnis Adrien-Vincent (das kalzinierte Kleinkind bei der Flashover-Übung war doch wohl nicht grundlos halluziniert?) und damit das zwischen Alexia und Vincent. Das ist alles extrem komplex und wirkt dennoch ganz ungezwungen, natürlich.
Nachdem sich Alexias Schädelplatte - impliziert - verschoben hat, ändert sich ihr Verhalten: Weg vom Töten (Mord wäre hier vllt. der falsche Bergiff) hin zum Zwischenmenschlichen, zur Kommunikation und vllt. sogar dem Eingeständnis eines Bedürfnisses. Und der Film sagt; Nähe funktioniert nur durch gegenseitiges Erkennen und Akzeptieren. Starkes Thema, aber nicht wie üblich moralinsauer dargestellt.
Ab der Treppenszene Villa ändert sich die Bildsprache massiv: Vorher waren es Figuren im Raum (in der Malerei spräche mal wohl vom Sujet "Figur in Landschaft"), nun verschwindet der Eindruck von Raum zugunsten einer Interaktion zwischen Figuren bzw. der Relation von Nähe / Distanz zu anderen. Die Figuren wirken dadurch weniger 'ikonisch', was zwar zu dem realistischeren Thema 'Beziehungen' gut passt, imA aber auch weniger interessant ist. That said: Wunderbar kitschlos rührende Szenen, unvorhersehbare Motive und Reaktionen. Auch, wenn ich eigentlich gespannt war, wohin die Reise nach all den Bluttaten und der Car-Connection geht, hab ich das gern verfolgt.
Dann begeht Titane imA einen unverzeihlichen Kardinalfehler: Das Autothema und die Anlage der Frauenfigur rückt alles ins Spekulative, aber genau das wird irgendwann fallengelassen: Der Plot, die Themen / Motive und ganz vor allem das Ende hätten genauso gut ohne jegliches spekulative Element funktionieren können. Eine gender-fluide Alexia nimmt die Rolle eines verschwundenen (verunglückten?) Sohnes ein und muss ihre Schwangerschaft verheimlichen etc.p.p. geht auch ohne Motoröl-Blut und 'der Vater ist ein Cadillac'. Wenn man anfangs einen spekulativen Konflikt versprochen bekommt, sollte imA dieser Konflikt auch spekulativ gelöst werden. Das ist nicht passiert, egal, was für ein Baby es ist.
Zudem ist mir sauer aufgestossen, dass aus einer Verstörten, Getriebenen plötzlich eine Märtyrerin wird, oder besser: durch ihr Leiden und das Ende eigentlich eine, die für ihre 'Sünde' und 'unnatürliche Lust' büßen muss. Das widerspricht ganz massiv dem Motiv der - vllt. etwas psychopathologischen - Selbstbestimmung am Anfang und rückt alles plötzlich in den letzten 10 Minuten an platte christliche Moral. Verstärkt durch den Soundtrack (Bachs Matthäuspassion), der - obwohl ich Requien mag - viel zu penetrant und laut über die Szene gelegt wird. Außer der 'Pieta' im Bad nach seiner Steriod-Überdosis gibt es ja keinerlei religiöse Motive im Film.
Okay, sorry, das war extrem wortreich, dabei hab ich nicht mal die Hälfte meiner Eindrücke geschildert.
Hätte Julia Ducournau sich an ihre eigene Prämisse gehalten, das phantastische Element konsequent durchgezogen und eben die Beziehung Alexia / Vincent dementsprechend behandelt bzw. enden lassen, wäre das Schwangerschaftsmotiv nicht so ungeheuer solitär in den Vordergrund gerückt (nichts interessiert mich weniger, ich hatte auch erwartet, dass ihr Abtreibungsversuch anfangs erfolgreich wäre und der Film von ganz anderen Dingen handelt), wäre es möglicherweise der beste Film, den ich je sah.
Begeistert haben mich all die liebevollen Details und Verknüpfungen / Spiegelungen: Alexia trägt erst ein T-Shirt mit Robot-Aufdruck und Adrien hat dann dieselben 50s Roboter in seinem Zimmer; das Flammenthema beim Cadillac, den Flashovers, Waldbrand und Vincents 'Aktion' (super das Detail: Seine Zimmerdecke war rußgeflammt, das kann kaum von dem einen Zündeln gekommen sein); die metallene Haarnadel als Symbol für ihre Probleme mit Nähe / als Extension ihrer Selbst etc. und auch das Metall des Brustpiercings ... (Aua!!!).
Titane hat extrem interessante Fragen aufgeworfen, und einige ganz wenige Unstimmigkeiten (?): Da sie selbst - zumindest mit der Schwangerschaft - sowohl Hämoglobin-Blut wie auch gleichzeitig Öl-Blut hat, müsste die Titan-Gebärmutter auch von ihrem eigenen Körper kommen, nicht vom Kind. Denn so viel Metall hat das Baby später ja gar nicht an sich. Zudem: Brüste lassen sich so weit runterbinden (klasse diese Verbands-Einschnitte!), aber wie ist da die Logik mit dem wachsenden Metallbauch? Ist hier das spekulative Element an- und abgeschaltet? Da Vincent dasselbe wahrnimmt wie sie, kann es keine Halluzination sein. Vllt. Korinthenkackerei, aber sowas kegelt mich bissl raus.
Fazit: Beginn absolut grandios - Mitte extrem interessant - Ende meh.
Fun fact: Agathe ist selbst nicht-binär, schreibt nebenher, hat ein Magazin herausgegeben und ein Photobuch über San Francisco veröffentlicht: I Ditched Class and I Took a Bath. Ceiba Editions, 2017. Besprechung & Verlagsseite. Ich hoffe, sie macht noch viele tolle Sachen und übernimmt weiterhin spannende Filmrollen!