Der Wehrwolf. 110 Jahre "Der Wehrwolf" und seine Folgen

  • Der Wehrwolf. 110 Jahre "Der Wehrwolf" und seine Folgen I, von Detlef Münch
    Rezeption von Literaturwissenschaft, Kunst und Politik 1910–1945. 380 S. mit 150 Abb.. Bibliophile Hardcover-Ausgabe mit Leseband, ISBN 978-3-946366-75-1, 49,80 Euro -
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    Vor 110 Jahren am 15. November 1910 erschien Hermann Löns (1866–1914) später mit mehr als 1,1 Millionen verbreiteten Exemplaren erfolgreichster Roman, „Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik“. Der zu Lebzeiten Löns´ euphorisch rezensierte „Wehrwolf“ wurde als „einzigartiges neues und zukunftsträchtiges historisches, realistisches, kraftvolles und inhaltlich überzeugendes Kunstwerk“ und als „ein modernes deutsches, männliches, antidekadentes, originales Volksepos“ u.a. von Hermann Hesse gewürdigt.
    Nach Löns’ Soldatentod am 29. September 1914 beginnend im 1. Weltkrieg wurde der historische Roman über den 30-jährigen Krieg zunehmend politisch instrumentalisiert, wofür der innerlich zerrissene Löns, der 1909 noch parteipolitische und religiöse Tendenzen des Romans verneint hatte, durch 1912 und 1914 getätigte martialische Aussprüche eine Mitverantwortung trägt. Das 50. Jubiläumstausend Ende 1918 wurde hingegen vom Verlag noch als pazifistisches Buch auf „Friedensbütten“ angepriesen. Doch von 1923–1933 bezeichnete sich sogar ein nationaler antidemokratischer, staats- und verfassungsfeindlicher Wehrverband als „Wehrwolf“, sang „Wehrwolflieder“, organisierte eine „Wehrwolfhilfe“, baute Wehrwolfheime“ und einen „Wulfshof“ und missbrauchte Löns´ Sinnsprüche. Biographen und Löns´ jüngster Bruder Ernst Löns schrieben den Romantitel zu dieser Zeit deshalb auch konsequent ohne „h“ als „Werwolf“. Doch auch eine parteiunabhängige Jugendorganisation, der Jungnationale Bund, der 1934 Widerstand gegen das NS-Regime leistete, benannte seine Verbandszeitschrift als „Wehrwolf“.

    Der auch von einigen Künstlern wie Walter Klemm, Hermann Rothgaengel, Elisabeth Voigt und Hans Pape illustrierte „Wehrwolf“ wurde von Käthe Kollwitz und ihrer Meisterschülerin Elisabeth Voigt als Antikriegs- und Frauenroman geschätzt und entwickelte sich in der Weimarer Republik zu einem Bestseller mit einer Gesamtauflage bis 1932 von fast 400.000 Exemplaren.
    Seit den 1920er Jahren wurde das Wehrwolf-Motiv in neuen Romanen über den 30-jährigen Krieg wie von Will-Erich Peukert und Friedrich Griese sowie auch in eine andere Kriegszeit verlegte wie von Ernst Schmitt und Josefa Berens-Totenohl plagiiert. Letztere machte in ihrem Doppelroman 1934/35 über „Der Femhof“, der eigentlich „Wulfshof“ heisst und von einer Art Ahnherrin des Harm Wulf, der Magdlene Wulf, geführt wird, deutliche wehrwölfige Anleihen an Löns ohne auch nur in die Nähe seines literarischen Niveaus zu reichen.

    Im NS-Regime wurde der Wehrwolf wie auch Löns selbst, der 1935 sogar noch vorsätzlich als Jude „verleumdet“ wurde, zunächst sehr ambivalent und äußerst kontrovers beurteilt, sodass ein mit Unterstützung durch Walther Darré geplanter Wehrwolf-Film von Goebbels Ende 1934 noch verboten wurde. Trotzdem schaffte der „Wehrwolf“ es durch Protegierung einflussreicher Löns-Bewunderer 1934 wie Alfred Rosenberg und den Reichserziehungsminister Bernhard Rust in die „Liste der ersten hundert Bücher für nationalsozialistische Büchereien“.
    Löns´ Symbol und das der fiktiven Wehrwölfe im Roman, die jahrundertealte Wolfsangel, fand schon seit 1923 eine weite Verbreitung u.a. in Jugendverbänden und Sportvereinen und wurde seit 1933 für die Deutsche Kinderschar, Wehrmachts- und SS-Einheiten verwendet. Erst 1936 fand der „Wehrwolf“ auch Eingang in den NS-Schulunterricht und seit 1941 wurde er dann in zahlreichen Sonderausgaben (u.a. einer „Dr. Goebbels-Spende für die deutsche Wehrmacht“) verbreitet, folgte den Eroberungszügen der Wehrmacht in den besetzten Gebieten nach und avancierte so im 2. Weltkrieg zum meistgelesenen und meistübersetzten deutschen Roman in Europa.
    Obwohl eher als ein Widerstandsroman gegen das ähnlich wie die Soldateska im 30-jährigen Krieg entmenschlichte NS-Regime geeignet, sollte der Roman seit Herbst 1944 mit zusätzlichen Sonderausgaben vom SS-Wirtschaftshauptamt, der „Organisation Todt“ und der NSDAP-Parteikanzlei – völlig irrational – auch noch zur Durchhaltelektüre im Bombenkrieg an der Heimatfront dienen.
    Zum Kriegsende im April 1945 führte Löns´ „Wehrwolf“ dann noch zur Verwechslung mit der im September 1944 gegründeten SS-Mordorganisation „Werwolf“ – was von den Nationalsozialisten noch Anfang 1945 gar nicht beabsichtigt gewesen war.

    Heute hat der „Wehrwolf“ sogar eine transhistorische Bedeutung als der in 3 deutschen Staatsformen mit Kaiserreich, Republik und Diktatur sowie 2 Weltkriegen erfolgreichste deutsche Roman und ist nicht zuletzt auch aufgrund der unzähligen, zeitereignisbedingt höchst unterschiedlich gestalteten Buchausgaben ein beeindruckendes zeitgeschichtliches Zeugnis, wie nicht nur die stets systemimmanente Rezeption des Romans, sondern ebenfalls seine Buchkunst die wechselvolle deutsche Geschichte von 1910–1945 widerspiegelt.