Beiträge von Arkham Insider Axel

    Bei der "Gasse" klang für mich auch Märchenhaftes aus irischen Feen-Sagen an (Münzen, die sich am nächsten Tag in Luft auflösen oder in Dreck verwandeln), aber bei dem Gold musste ich tatsächlich auch an Besitztümer denken, die Nazis ihren Opfern stahlen. Die Enstehungsszeit der Geschichte ist dafür aber zu früh.

    Katla Ja, bei den Märchen gibt es jede Menge Vergleichsmöglichkeiten. Die widerrechtliche Aneignung von Vermögen –, das ist ein starkes Thema in der Geschichte. Ich wäre im Podcast gerne noch mehr darauf eingegangen. Sicher, der Gedanke lässt sich in der von dir angegebenen Richtung weiterspinnen. Und zeigt, welches gedankliche Potential in dieser Geschichte steckt …


    Vielen Dank für den Hinweis auf die Güte der englischen Übersetzung. Ich wusste wohl, dass die Vandermeers Ray in ihrer Weird-Anthologie drin haben. Es scheint, als erfreute er sich gerade im englisch-amerikanischen Raum wieder größerer Beliebtheit (für eine kurze Zeit in den 30ern war Ray auch in Weird Tales vertreten).


    Natürlich würde ich mir den Mainzer Psalter gerne noch einmal für S2F vornehmen. Aber jetzt steht erst mal wieder Lovecraft an … Schön zu hören, dass dir die Folge zugesagt hat – und da kann ich mir ja sicher sein, nicht gespoilert zu haben! [Cof]


    Ich feiere wenige Erzählungen so ab wie Jean Rays „Die Gasse der Finsternis“. Mitziehen kann da eigentlich nur noch „Der Mainzer Psalter“ – natürlich vom selben Autor.


    Außerhalb von Raum und Zeit

    Worum geht’s? Ein müßiger Erzähler stöbert auf einem Kai in Rotterdam in einem Ballen Altpapier herum. Dabei fallen ihm zwei Manuskripte in die Hände: eins in deutscher, das andere in französischer Sprache. Das deutsche berichtet von mysteriösen Schrecken, die über die Stadt Hamburg hereinbrechen. Leute verschwinden spurlos oder werden von unsichtbaren Kräften gemeuchelt. Die unbekannte Verfasserin bricht ihre Aufzeichnungen abrupt ab.

    Das folgende Manuskript stammt von einem Französischlehrer, der an einem Hamburger Gymnasium unterrichtet. Seine Schilderungen drehen sich vorrangig um eine Gasse, die sogenannte Bergonnogasse. Sie ist nur ihm allein bekannt und auf keinem Hamburger Stadtplan verzeichnet. Tatsächlich scheint sich die wundersame Gasse außerhalb der uns bekannten Dimensionen von Raum und Zeit zu befinden … Dort hätte sie auch bleiben können. Doch unser Lehrer – von Sorgen und Begehrlichkeiten getrieben – beschreitet die Gasse und rührt an Dingen, die besser unangetastet geblieben wären.


    Was wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean

    Wie man sich denken kann, korrespondieren beide Manuskripte. Und der deutsche Text wird von dem französischen erhellt. Am Ende reist der Erzähler selbst nach Hamburg und fügt die übriggebliebenen Lücken mit eigenen Erkundigungen auf. Dennoch: die finale Antwort auf den Ursprung der Geschehnisse verweigert uns Jean Ray. Wie H. P. Lovecraft oder M. R. James konfrontiert uns der Autor mit der simplen aber bedrückenden Tatsache eines namenlosen Grauens, dem die Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Und wie bei den Genannten ist es die typisch menschliche Neugierde, die die Büchse der Pandora öffnet.


    Fazit

    „Die Gasse der Finsternis“ ist ein ausgezeichnetes Beispiel klassischer Weird Fiction. Die Story hantiert noch mit den bekannten Themen der Gruselgeschichte. Gleichzeitig fasst sie entschlossen die Erkenntnisse ihrer Zeit an, hier: die Theorien eines Albert Einsteins und „die Schwächen der euklidischen Geometrie“. Ein Hauch Science Fiction schwingt mit, auch wenn die Wissenschaft populär und spekulativ behandelt wird. Gut so, denn so bleibt für das Unheimliche und die Brüchigkeit unserer Erfahrungswelt genug Spielraum. Ich vergebe 5 von 5 möglichen Daumen.

    :thumbup::thumbup::thumbup::thumbup::thumbup:


    Und sonst?

    • Jean Ray ist das Pseudonym des Genter Autors Raymundus Joannes de Kremer (1887 – 1964). Ein anderer populärer Nom de Plume von ihm lautet John Flanders. Er schrieb auf Französisch und Niederländisch.
    • Der Originaltitel der Geschichte lautet „La Ruelle ténébreuse“. Erschienen ist sie erstmals 1932 in dem Band „La croisière des ombres“.
    • Die deutsche Übersetzung befindet sich im Band „Die Gasse der Finsternis“ (Bibliothek des Hauses Usher, Insel Verlag 1972 und Phantastische Bibliothek Bd. 132, Suhrkamp 1984)
    • Die Zahl der Texte, die Jean Ray verfasst hat, kratzt an der 10.000er-Marke. Neben unheimlichen Erzählungen finden sich darunter Krimis für Romanhefte, Jugendliteratur, Essays und Besprechungen.
    • Auffälligerweise spielen mehrere von Rays Stories in Deutschland. Neben Hamburg nenne ich Hannover und Hildesheim, den badischen Teil des Schwarzwaldes oder den fiktiven Ort Holzmünde.
    • Es gibt einen Podcast zu der Geschichte, bei dem ich, wie ich mir in aller Bescheidenheit mitzuteilen gestatte, mitgewirkt habe: Sigma 2 Foxtrot Jean Ray – Die Gasse der Finsternis

    Ich möchte meinen, dass diese Vorstellung schon fast überfällig war! Aber gut, das ist ja kein Comic-Forum hier.


    Mit Schwermetall kam ich ca. als 13-Jähriger in Berührung, durch den älteren Bruder eines Freunds. Jodorowsky, Moebius, Druillet … die Zeichnungen waren schon klasse! Die Stories selbst, na ja, für die konnte ich mich nicht immer im gleichen Maß begeistern.


    Zuletzt habe ich mir vor ca. 5 Jahren eine Ausgabe (Oktober 1979) von Heavy Metal bestellt – aus Kanada. Muss ich sagen, dass es sich um die berühmte Lovecraft-Nummer handelt? Die Collage auf dem Titel von JK Potter liebe ich über alles. Im Innenteil überzeugen vor allem die Arbeiten von Alberto Breccia (The Dunwich Horror) und Nicole Claveloux (eine Hommage an Lovecrafts Lieblingstiere – Katzen).


    Einige Eindrücke von der Nummer gibt es der Seite von John Coulthart.

    Alfred Andersch - Die Letzten vom schwarzen Mann

    Danke dafür! Da ich die Story ja im Zusammenhang mit dem "Geisterhausbuch" erwähnte, stieß ich auf die Sendungsseite … und wollte dich schon fragen, ob die mp3-Datei auch noch irgendwo herum schwirrt.


    Im Übrigen habe ich die Erzählung auch als Lesung auf einer Hörbuch-Antho mit unheimlichen Geschichten.

    Mein Exemplar ist aus dem Bücherschrank, ausgemustert aus einer Bibliothek, inklusive Stempel und Leihkarte. Aber natürlich, mit Schuber ist immer besser als ohne. Schön finde ich Seehafers Bemerkung im Vorwort, dass manch einer es übertrieben finden könnte, dass er je 3 Stories von Maupassant und Blackwood aufgenommen hat:


    Zitat

    „Da kann ich nur um Anerkennung der Tatsache bitten, nicht noch mehr gebracht zu haben.“


    Zu meinen Lieblingsbüchern …

    … in der Kindheit gehörte „Das verschluckte Gespenst“. Der Untertitel erscheint etwas umständlich, trifft aber den Nagel auf den Kopf: „Geschichten für die Gänsehaut. Klassische und moderne Texte mit alten und neuen unheimlichen Bildern.“ Diesem Band verdanke ich es, dass ich mich intensiv mit dem Schriftsteller August Justus Mordtmann und seiner Erzählung vom „Untergang der Carnatic“ befasst habe – eine der am häufigsten abgedruckten Gespensterschiff-Geschichten. Auch an die frühe Begegnung mit Algernon Blackwood („Eine Geisterinsel“/„A Haunted Island“) denke ich gerne zurück. Richtig furchteinflößend fand ich zudem Bram Stokers mordlustige „Flucht aus der Müllstadt“ („The Burial of the Rats“). Kurz und gut: mein eh schon vorhandenes Interesse an Schauergeschichten wurde mit diesem Buch weiter gefestigt.


    Eine zeitlose Leidenschaft

    Herausgegeben wurde „Das verschluckte Gespenst“ von Klaus Seehafer (1947 – 2016). Der Diplom-Bibliothekar hatte eine Faible für Anthologien und rund ein Dutzend geht auf sein Konto. Außerdem schrieb er die Goethe-Biografie: „Mein Leben ein einziges Abenteuer“ – vielleicht ein passendes Motto für Seehafers eigene literarische Umtriebigkeit. Besonders mochte Seehafer offensichtlich Gespenstergeschichten. Neben dem „verschluckten Gespenst“ gibt es in seiner Bibliografie drei weitere Anthologien, die sich ganz dem Unheimlichen widmen. Wie jenes avisieren sie ursprünglich ein jugendliches Publikum. Aber, wie wir alle wissen, für eine gute Gruselgeschichte ist man nie zu alt!


    Das Geisterhausbuch

    1987 erschien „Das Geisterhausbuch“: zwei Taschenbücher im Schuber, kongenial illustriert von dem tschechischen, vielfach ausgezeichneten Künstler Jindra Čapek. Die Sammlung ist eine Verbeugung vor dem Spukhaus und vereint einige Klassiker des Genres, etwas Bulwer-Lyttons „Das verfluchte Haus in der Oxford Street“ („The Haunted and the Haunters“), Walter Scotts „Das Zimmer mit den Wandbehängen“ („The Tapestried Chamber“) oder gleich 3 Stories von Algernon Blackwood, der sich wie wenige andere an dieser Thematik abgearbeitet hat. Mit Marie Luise Kaschnitz („Gespenster“), August Derleth („Potts Triumph/„Pott’s Triumph“) oder Alfred Andersch („Die Letzten vom Schwarzen Mann“) hat „Das Geisterhausbuch“ freilich auch einige Überraschungen parat. Die Anthologie wurde übrigens im Erscheinungsjahr „Buch des Monats“ der Akademie der Kinder- und Jugendliteratur.


    Acht Glasen Mitternacht

    Im Carlsen Verlag kam 1990 das Buch „Acht Glasen Mitternacht“ heraus, Untertitel: „Unheimliche Geschichten vom Rande der See“. Als Autor wird zwar Dieter Bromund genannt, aber die Auswahl der Geschichten besorgte Klaus Seehafer. Tatsächlich besteht Bromunds Anteil daran, dass er eine Rahmenhandlung in Form einer Einstiegs- und einer Ausstiegs-Episode geschrieben hat. Dazwischen tummeln sich 9 maritime Spukgeschichten. Mordtmann und die „Carnatic“ hat Seehafer zum zweiten Mal berücksichtigt, ansonsten listet das Inhaltsverzeichnis Wilhelm Hauff („Die Geschichte vom Gespensterschiff“, „Die Höhle von Steenfoll“), Martin Luserke („Die Hand, die sich rächte“) oder Anna Seghers („Die Toten auf der Insel Djal“). Die Gesamtausstattung des Buchs (inklusive eines großartigen Vorsatzpapiers) stammt von Uwe Häntsch, einem Berliner Grafiker, der schon in der DDR viele Bücher illustriert hat.


    Im Mahlstrom des Grauens

    Mordtmanns „Untergang der Carnatic“ zum Dritten! Es spricht für Seehafer, dass er von dieser Erzählung nicht lassen konnte. Nämlich im Jahr 2001 erblickte „Im Mahlstrom des Grauens. Unheimliche Geschichten von Strand und Meer“ im Leda Verlag das Licht der Welt. Mehrere Geschichten aus „Acht Glasen Mitternacht“ hat Seehafer hier wieder verwertet, es sind aber auch einige neue dazugekommen. Als Höhepunkte nenne ich Jonas Lie („Elias und der Draug“), William Hope Hodgson („Die Crew der Lancing“/„The Crew of the Lancing“) oder Washington Irving mit „Die Gäste von der Gibbet-Insel“ („The Guests from Gibbet Island“).


    Fazit

    Vielen wird der Name Klaus Seehafer vielleicht nichts gesagt haben (dabei hat Shadowman in einem anderen Thread gerade auf „Im Mahlstrom des Graunes“ hingewiesen). Und mit vier Anthologien zu unheimlichen Erzählungen dürfte er sich kaum zur Koryphäe der Gruselgeschichte aufgeschwungen haben. Aber wer (wie ich) im zarten Alter von etwa 10 Jahren mit Lektüre dieser Art gefüttert wurde, hält diese Kindheitserinnerungen in Ehren. Dem strengen Blick des erwachsenen Lesers bleiben zwar einige editorische Ungenauigkeiten und Freiheiten nicht verborgen. Das aber sind Kleinigkeiten: Unterm Strich bin ich Klaus Seehafer dankbar für seine Verdienste um die Gespenstergeschichte und kann alle vier Bücher bedenkenlos empfehlen.


    Links

    Deutsche Nationalbibliothek: Klaus Seehafer

    Klaus Seehafer: Autoren-Webseite