Beiträge von Arkham Insider Axel

    Gottfried Kölwel: Das Himmelsgericht. Merkwürdige Ereignisse

    Leinen mit Schutzumschlag, 74 Seiten. Liechtenstein Verlag. München 1951

    Mit 21 Zeichnungen von Hans Fronius



    Motto: „Wo sich der Mensch mit Schuld belädt, das Übel dieser Welt gerät.“


    Beschreibung

    In diesen 10 „Merkwürdigen Ereignissen“ vollenden sich die Schicksale von Außenseitern, Sonderlingen und dubiosen Existenzen. Auf wenigen Seiten erzählt Gottfried Kölwel (nicht zu verwechseln mit Eduard Koelwel) lakonisch von Menschen – mal Opfer, mal Täter – denen irgendein Missgeschick oder ein dummer Zufall zum Verhängnis wird. Eine unter normalen Umständen banale Begebenheit erweitert sich so zum Symbol für ein von rätselhaften, oftmals dämonischen Kräften bestimmtes Dasein. Dabei gehört des Autors Sympathie, wenn man sie so nennen will, den Gescheiterten und Mittellosen. Und jedes Unrecht, das ihnen zugefügt wird, fällt auf die jeweiligen Peiniger zurück.


    Gleichzeitig mit dem Unerklärlichen betont Gottfried Kölwel das Lächerliche des menschlichen Strebens. Dadurch gelingt ihm eine die Groteske streifende Situationskomik, die freilich recht bitter ausfällt. Anlass zur Hoffnung dürfte der Band zum Zeitpunkt seines Erscheinens, sechs Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, jedenfalls kaum gegeben haben.


    Für die Phantastik interessant ist die Sammlung, da Kölwel „wieder an die volkstümliche Phantasie mit ihrer Neigung zum Gruseligen und Spukhaften“ anknüpft, wie Franz Lennartz 1959 in seinem Dichter-Lexikon feststellte. Und richtig sind die Schauplätze zwielichtige Großstadtwinkel, einsam gelegene Gehöfte und unheimliche Landschaften wie Moor und Wald. Bevölkert werden diese Gegenden von der dazu passenden Fauna aus Katzen, Eulen oder Raben, die in ihrer Rolle als Bedeutungsträger kaum misszuverstehen sind.


    3 Beispiele

    „Der stumme Mund“

    Ein Krämer nimmt von einem Viktualien-Händler einen Hundertmarkschein ein. Der misstrauische Krämer kann seinen Reichtum kaum fassen; da geschieht das Unglück: der Schein verschwindet auf unerklärliche Weise. Der Krämer bezichtigt den Händler, sich das Geld wieder zurückgeholt zu haben. Es entsteht eine Feindschaft zwischen beiden, die darin gipfelt, dass das Haus des Krämers eines Nachts abbrennt. Der Brandstiftung verdächtigt, wird der Viktualien-Händler verhaftet. Bei der Beseitigung der Haustrümmer klafft indes ein Spalt in der Grundmauer, „als hätte sich ein von unten heraufkommender, dunkler Mund geöffnet, um, ohne dabei ein menschliches Wort zu sagen, eine nie geahnte und furchtbare Erkenntnis zu verkünden …“ In diesem Riss befindet sich wundersamerweise der Hundertmarkschein. Der Verdächtige wird zwar aus der Haft entlassen, doch als Zeichen des Unfriedens und des Argwohns bleibt der stumm anklagende Riss bestehen.


    „Die Eule“

    Eine junge Bäuerin hat ihr Auge auf den „besten Burschen aus der ganzen Gegend“ geworfen. Er verschmäht sie und heiratet eine andere. Die Bäuerin wünscht dem jungen Glück den Totenvogel ins Ehebett: die Eule. Doch der Fluch geht daneben, das Paar bekommt einen Jungen, die enttäuschte Bäuerin heiratet in einen anderen Hof ein und bringt ein Mädchen, Sabine, zur Welt. Als die Kinder heranwachsen, verlieben sie sich ineinander. Natürlich gegen den Willen der jeweiligen Eltern. Selbst als Sabine schwanger wird, willigen sie nicht zu einer Hochzeit ein. Daraufhin verschwindet Sabine spurlos. Ihr Liebhaber findet sich schließlich damit ab und nimmt eine andere zur Frau. Da entdeckt Sabines Mutter eines Tages ein neugeborenes Kind an ihre Scheune genagelt – „wie eine tote Eule, welche die Bauern an die Städel nageln, um das Unheil abzuschrecken.“ Sabine aber wird tot in einem nahen Tümpel gefunden. Die alte Bäuerin wird daraufhin von einer seltsamen Krankheit heimgesucht: Der Schweiß bricht ihr aus allen Poren und sie ist dazu verdammt, sich buchstäblich zu Tode zu schwitzen.


    „Das Himmelsgericht“

    In der Titelgeschichte geht es um einen kolossal schwergewichtigen Bauern, der seine drei Töchter wie „das Tier im Joch“ hält. Es heißt, keine der Töchter dürfe das väterliche Haus verlassen, bevor es dort nicht seinen Jungfernkranz gelassen habe. Als sich ein Forstgehilfe um eines der Mädchen bewirbt, installiert der Bauer ein Himmelsgericht: Ein im Garten aufgestelltes Fass muss sich bis zum Überlaufen mit Wasser füllen – erst dann darf der Bewerber seine Braut heimführen. Während der Bauer heimlich Wasser abschöpfen will, wird ihm das vermeintliche Himmelsgericht selbst zum Verhängnis. Vorher hat er noch versucht, sich an der Tochter zu vergehen …


    Fazit

    Lohnenswerte Sammlung mit kurzweiligen Geschichten und ein Beispiel der „Nachkriegs-Phantastik“: ein Gebiet, das in seiner Besonderheit vielleicht noch nicht ausreichend untersucht oder gar gewürdigt wurde. Zur Stimmung tragen auch die expressiven Zeichnungen von Hans Fronius bei, die wohl Alfred Kubin einiges zu verdanken haben.

    Ich bringen einen weiteren Namen ins Spiel: Wassilij Nikolajewitsch Masjutin (1884, Riga – 1955, Berlin). Masjutin war bildender Künstler und Schriftsteller. Er wurde vor allem durch Graphiken und Buchillustrationen bekannt. Nach Stationen in Kiew, Moskau und St. Petersburg lebte und arbeitete er ab den 1920ern in Berlin. Reisen und Studienaufenthalten führten ihn nach Italien und Frankreich. Seine graphischen Blätter erinnern an die phantastischen Werke von Max Klinger, Alfred Kubin, Félicien Rops etc. Im Folgenden möchte ich seinen Roman „Der Doppelmensch“ vorstellen, der 1925 in der Reihe „Sindbad-Bücher“ des Drei Masken Verlags erschien.



    Der Doppelmensch. Von W. N. Masjutin (1925)

    Inhalt

    Der Titel „Der Doppelmensch“ verweist bereits auf das Leitmotiv des Romans, den Doppelgänger. Einen solchen lernen wir kennen in der Figur des Pawel Iwanowitsch Nowikow. Bei Arbeiten an einer Straßenbahnleitung löst sich ein glühender Draht und teilt Nowikow quer in zwei Teile. Dies ereignet sich vor dem Fenster des Arztes Oschurkow, der die beiden leblosen Körperhälften in sein Labor bringen lässt. Dort päppelt er sie wieder auf: so dass sich aus der oberen ein neuer Unterkörper und aus der unteren ein neuer Oberkörper heraus bildet. Mithin existiert Nowikow nun in doppelter Ausführung, allerdings sehr ungleich. Es gibt einen stark vergeistigten Nowikow, der an leiblichen Bedürfnissen kein Interesse mehr hat. Und es gibt einen gefräßigen, rein triebgesteuerten Nowikow.


    Mein Eindruck

    Masjutins Grundthema ist das des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (R. L. Stevenson). Doch wird hier der Konflikt sehr viel mehr zugespitzt. So kommt es bei Nowikow zu einer scharfen Persönlichkeitsspaltung in eine geistig-abstrakte und eine körperlich-instinktive Hälfte. Die Teilung ergibt sich – anders als bei Stevenson – aus einem physischen Prozess von Tod und Regeneration. Bei der Gelegenheit kultiviert Masjutin mit seinem Arzt und Wissenschaftler Oschurkow den Typ des „mad scientist“. Dem Buch fehlt das Quälerische und das Dämonische, das wir bei Stevensons Doppelgänger oder auch bei Edgar Allan Poes „William Wilson“ finden. Vielmehr ist das Ganze ein Sittenroman mit lebhaftem Interesse für sexuelle Spielarten: einmal in Form von Verdrängung durch Nowikow 1 und ein andermal in Form hemmungsloser Triebbefriedigung durch Nowikow 2. Interessante Nebenfiguren flankieren diesen dualen Protagonisten, der schließlich in den Moskauer Revolutionswirren sein jeweiliges Ende findet.


    Fazit

    „Der Doppelmensch“ überzeichnet das Doppelgänger-Motiv bis an die Grenze zur Satire. Stärker als die phantastische Motivation mit ihren denkbaren psychologischen Komplikationen scheint mir jedenfalls der schwarze Humor im Vordergrund zu stehen. So oder so: ein lesenswertes Buch.

    H. R. Giger & Mire Lee

    Nice! Ich hätte überhaupt auch gerne mal Giger-Sachen im Original gesehen, der hat mich als Jugendlicher ebenfalls sehr geprägt. Über ihn entdeckte ich Kubin; und natürlich sind meine ersten Lovecraft-Erfahrungen (Necronomicon) untrennbar mit ihm verbunden. Mire Lees Werke sehen auch interessant aus … Haben die diese "Kooperationen" Giger + xyz jetzt dauerhaft im Programm? Die Bellmer-Sachen brauch ich jetzt nicht unbedingt …

    Ich schätze, die meisten genannten Werke sind nur noch antiquarisch zu beziehen.

    Nicht nur. Abgesehen von den PoD-Büchern, die auf den frei verfügbaren Texten im Netz basieren, gibt es noch einige richtige Verlagsveröffentlichungen.


    Ein wichtiger Name in unserem Zusammenhang ist der schon früh in Deutschland gewürdigte Leonid Nikolajewitsch Andrejew (1871 – 1919). Von ihm beispielsweise zu haben:

    • Matthes & Seitz Berlin: Die Mauer
      Verlagsinfo: „Die Mauer ist der literarische Bericht über den Ausbruch einer Seuche, deren Aussätzige nicht gerettet werden. Diese ewig gültige Parabel über das Ausgestoßensein hat heute mehr Gültigkeit denn je.“
    • Boer Verlag: Das rote Lachen
      Eine blutige Schreckensvision, die „einen russischen Krieger auf dem mandschurischen Felde erfaßt hat. Langsam ergreift ihn der rote Wahnsinn; er sieht nur noch ein verzerrtes Wahnsinnslachen, strömendes Blut, seit einem lachenden Menschen die feindliche Kugel das Gesicht zu grausigem Lachen verzerrte.“ (René Schickele in: Führer durch die moderne Literatur, 1910)

    Der genannte Alexander Grin (1880 – 1932) wird noch im Unionsverlag gepflegt mit seiner Novelle „Purpursegel“. Das Nachwort dazu, von Leonhard Kossuth, hat der Verlag freundlicherweise auf der Autorenseite zum Download bereitgestellt.

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    Brjussow und Ssologub

    An diesen beiden Namen ist kein Vorbeikommen, wenn es um die Phantastik der symbolistischen Ära Russlands geht. Die hier abgebildete Novelle Brjussows Letzte Seiten aus dem Tagebuch einer Frau erschien 1911 im Freiburger Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld, welcher sich vor allem als Herausgeber der Werke Karl Mays einen Namen machte. Es handelt sich um das psychologisch enervierende Dokument eines Mords. Im Anhang enthalten ist eine Art Skizze, ein kurzer fieberhafter Text namens „Der Tod“ von B. Saizeff (Boris Saizew/Sạjzew, 1881 – 1972). Bemerkenswert ist, dass Fehsenfeld hiermit eine neue Reihe starten wollte: „Moderne Russen. Band 1“. Dabei blieb es jedoch, mehr Titel sind nicht erschienen … Ein verbreiteter Erzählband Brjussows ist Die Republik des Südkreuzes (EA 1905, hier in einer Ausgabe der Phantastischen Bibliothek Suhrkamp), in der Titelgeschichte wird eine Utopie beschrieben, die „an Mordlust und sexueller Gier zugrunde“ geht (Frank Rainer Scheck). Über den von Scheck in DuMont’s Bibliothek des Phantastischen aufgenommenen historischen Roman Der feurige Engel (EA 1907/1908) schreibt Johannes Guenther: „Die ganze magische Besessenheit des Mittelalters steht hier in wunderbar düster glühenden Farben auf.“



    Der fast ein Dezennium ältere Fjodor Sologub (Ssologub/Sollogub, 1863 – 1927) wird von Johannes Guenther als „Sänger des Todes“ bezeichnet. Natürlich tummelt auch er sich unter den Neuen russischen Erzählern; die kindliche Angstzustände thematisierende Story „Schatten“ hatte Alexander Eliasberg schon für die Sammlung Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen (1918) übersetzt. Als ein Hauptwerk des russischen Symbolismus kürt das Lexikon der Phantastischen Literatur den auf Deutsch in 2 Bänden erschienenen Roman Totenzauber. Eine Legende im Werden (1913): ein fabelhaftes Werk, das ich in bester Erinnerung (aber, da es ein Leihexemplar war, nicht ausgelesen) habe … Abschließend will ich noch einen obskuren Gedichtband erwähnen, den ich 2013 auf der (nicht mehr existenten) Dortmunder Science Fiction-Convention (DortCon) erwarb: Fjodor Sologub. Gedichte, übertragen von Arjuno Gramich, erschienen im Toyberg Verlag – und zwar als zweisprachige Ausgabe. Die Titel der Gedichte sprechen für sich: „Schlaf“, „Die Satansschaukel“, „Asteroid“, „An den Tod“ usw.


    Outro

    Fehsenfelds projektierte Reihe „Moderne Russen“ (1911) und die von Alexander Eliasberg edierte Sammlung Neue russische Erzähler (1920) zeigen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte im deutschsprachigen Raum durchaus Interesse an der aktuellen russischen Literatur. Eine wichtige Rolle spielte auch der in Mitau/Kurland geborene und mehrfach zitierte Johannes von Guenther (1886 – 1973). Dessen Anthologie Russische Gespenstergeschichten (bis auf Brjussows Beitrag jedoch aufs 19. Jahrhundert beschränkt) erschien erstmals 1921 und dann wiederholt, bis in die 1970er Jahre, bei Fischer als Taschenbuch. Für meinen schnellen Überblick leistete mir sein Buch Von Rußland will ich erzählen. Der dramatische Lebenslauf der russischen Literatur (1968) gute Dienste. Zu Brjussow siehe auch die Nachworte in: Die Republik des Südkreuzes (von Klaus Städtke) und in: Der feurige Engel (von Frank Rainer Scheck).

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    Intro

    Ein Schnellkurs, beschränkt auf einige Highlights, was bekannt und greifbar war, keine Lehrbuchmeinung, herausgegriffen aus der eigenen Bibliothek, basierend auf persönlichen Leseerfahrungen … please remember.


    Russland und Europa

    Die Chronik der jüngeren russischen Literaturgeschichte setzt vergleichsweise spät an. Nämlich erst im 18. Jahrhundert. Einen entscheidenden Impuls vermittelte die Regierungszeit des Zaren Peter des Großen (1672 – 1725), seine Alleinherrschaft begann 1689. Nicht wie heute Moskau, sondern das weiter westlich gelegene Petersburg bildete das politische und kulturelle Zentrum des Reichs. Auf die nachfolgende russische Literatur wirkten Vorbilder aus Deutschland und Frankreich, – von den sonstigen Wechselwirkungen ganz abgesehen. Stellvertretend für den deutschen Part sei lediglich genannt: Katharina die Große (1729 – 1796), geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Wie dann im Detail Europa nach Russland kam und umgekehrt: das würde an dieser Stelle zu weit führen. Genug, dass sich die erwähnten Wechselwirkungen politisch, geographisch und kulturell auf lange Sicht nicht von der Hand weisen lassen.

    Symbolismus

    Als Ursprungsland des Symbolismus gilt Frankreich. Von hier aus wirkte, einmal mehr, der Einfluss auf das künstlerische Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts: „Das Vergleiten von Traum und Realität, das Verschmelzen von Klang und Farbe, das Unwirkliche in der Wirklichkeit waren Kennzeichnung dieser neuen Dichtung.“ (Johannes von Guenther). Bedeutsame französische Namen sind: Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé oder Émile Verhaeren.

    Neue russische Erzähler/Meistererzählungen des russischen Symbolismus

    Ein Wegbereiter des russischen Symbolismus war der Petersburger Dichter Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski (1866 – 1941), der 1919 mit seiner Gattin nach Paris emigrierte. Von ihr – Sinaida Nikolajewna Hippius (1869 – 1945) – war bereits hier im Forum die Rede. Ihre phantastische Geschichte „Das zweite Leben“ ist enthalten in dem Band: Neue russische Erzähler (1920). Darin geht es um die Malerin Yvonne de Susor, die sich von einem Wahrsager ihre komplette Zukunft voraussagen lässt. Äußerlich eine Schönheit, erregt ein Blick in ihre Augen Grauen und Widerwillen. Denn das fatale Wissen um die Zukunft – und den Tod – ist ihr unauslöschlich in Herz und Antlitz geschrieben … Der von Alexander Eliasberg edierte Sammelband wurde 1964 noch einmal veröffentlicht im Goldmann Verlag als: Meistererzählungen des russischen Symbolismus.


    Alexander Eliasberg (1878 – 1924), in Minsk geboren, in München gestorben, hat (nicht nur) mit der Herausgabe dieser Anthologie sicherlich einen wichtigen Schritt zur russisch-deutschen Literaturvermittlung gemacht. Er widmete das Buch Thomas Mann („in tiefer Verehrung“); auf Wikipedia lesen wir zudem, dass er Mann mit „russischen Romanen bekannt“ gemacht habe.


    Wen finden wir noch in der Sammlung? Zum Beispiel Konstantin Dmitrijewitsch Balmont (1867 – 1942) mit „Der Weg durch die Luft“. Es ist dies die Lebensgeschichte eines verzweifelten jungen Mannes, der sich in suizidaler Absicht aus dem Fenster stürzt. Er überlebt schwerverletzt. Die Zeit der Rekonvaleszenz beschert ihm grässliche Alpträume, etwa: Aus einer Blutlache im Hof erhebt sich ein Kopf – eine Kaulquappe mit dem Gesicht eines Säuglings. Das Wesen wächst empor und schaut durchs Fenster in sein Zimmer hinein … Die surreale Story behandelt auf bedrückende Art Themen wie Einsamkeit, Selbstmord, Träume, Schmerz und Erlösung. Zu Balmont lässt sich noch sagen, dass er „Freund und Feind“ (Johannes Guenther) von Brussjow war. Auch dieser – Waleri Jakowlewitsch Brjussow (1872 – 1942) – ist in Neue russische Erzähler enthalten. Doch dazu mehr im nachfolgenden Beitrag.

    Felix Dein letzten Aktivitäten sind sehr begrüßenswert, ich selbst wollte hier schon einmal einen (allgemein gehaltenen) Thread über Phantastik aus Russland eröffnen. Nicht, weil ich mich besonders gut auskenne, – sondern in der Hoffnung, dass eine stärkere Auseinandersetzung folgen würde. Historisch interessant erscheinen die zwei Epochen:

    • die Zeit der Romantik (18. bis 19. Jahrhundert)
    • Anfang des 20. Jahrhunderts, insb. der russische Symbolismus

    Aufhänger war für mich jedenfalls Die Familie des Wurdalak, welche Geschichte ich in einer hübschen Minibuch-Ausgabe des Verlags Zweifäusterdruck (hier: Die Familie des Wurdalaken) aus dem Jahr 1924 letzten September auf einem Flohmarkt erwarb.


    Wie auch immer, ich schließe mich jedenfalls voll und ganz an:

    Dieser Klassikers der Vampirliteratur ist ein echtes Kleinod(!)

    Hier noch einige Bilder der genannten Ausgabe:

    Perceval Gibbon: Was Vrouw Grobelaar erzählt

    Broschur, 249 Seiten. Übersetzung: Marie Franzos, Buchausstattung: Max Schwerdtfeger. Verlag der Literarischen Anstalt Rütten & Loening. Frankfurt a. M. 1909



    Inhalt

    Regelmäßig unterhält Vrouw Grobelaar, eine gesetzte Burenfrau von mächtigem Körperumfang, ihre Nichte Katje mit Geschichten. Vordergründig haben diese insgesamt 17 Geschichten einen belehrenden Charakter. In der Praxis handelt es sich freilich um allerlei Spukhaftes und Abenteuerliches, bei dem die Moral hinter der Drastik des Geschehens zurücksteht. Erzählt wird aus dem Leben der im Transvaal ansässigen Buren, die bei Vrouw Grobelaar als höchst widersprüchlicher Menschenschlag erscheinen. Treuherzigkeit und Arbeitsfleiß gedeihen hier ebenso wie Trinksucht, Faulheit und Gewalttätigkeit. Und immer wieder werden die biederen christlichen Glaubensvorstellungen vom Aberglauben der Eingeborenen unterwandert.


    Einige Beispiele

    Da ist ein Prediger, dessen Frau auf dem Sterbebett liegt. Als seine Gebete nichts nützen, ruft er den Teufel an – scheinbar mit Erfolg. („Das Opfer“). In „Der Bluträcher“ wird ein schwarzes Kind von einem Buren tot geritten; das am Reiter klebende Blut ist bereits Fingerzeig der Rache aus dem Jenseits. Der „Tagalash“ ist ein Wassergeist, der eine enttäuschte junge Ehefrau in sein Schattenreich hinab lockt. Erinnert diese Figur an den Wassermann europäischer Sagen und Märchen, so haben wir mit „Der König der Paviane“ ein Äquivalent zum hiesigen Werwolf. Recht brutale, bitter pointierte Stories tischt uns die Erzählerin auf mit „Vascos Liebchen“ (die Geschichte eines verhinderten Frauenraubs) oder „Bis ins dritte Glied“, in welcher ein Sohn seinen Vater erschlägt, wie dieser es bereits schon mit seinem Vater tat.


    Kritik

    Dies alles ist treffsicher und mit schwarzem Humor erzählt; die Übersetzung von Marie Franzos liest sich gut. Dennoch leidet die Lektüre entscheidend durch den in allen Erzählungen waltenden krassen Rassismus. Die „Kaffern“, so die durchgängige Bezeichnung für die schwarze Bevölkerung, kommen fast nur als triebhafte Bösewichte vor, denen – im Gegensatz zu den Schlechtesten der Buren – jede Menschlichkeit abgesprochen wird. Vom verschlagenen Buschmann zum teuflischen König der Paviane ist es bei Gibbon denn auch nur ein kleiner Schritt. Die dargebotene Sichtweise offenbart jedenfalls einen finsteren Blick auf dieses Kapitel südafrikanischer Geschichte bzw. Kolonialgeschichte.


    Autor und Illustrator

    Perceval Gibbon (1879 – 1926), so der vergessene Name des jung und schon lange verstorbenen Autors. In der hier abgebildeten Verlagsreklame heißt es, die Engländer stellten „Vrouw Grobelaar“ bereits neben die besten Arbeiten Rudyard Kiplings. Die Veröffentlichung ist im Rahmen eines international gelegten Verlagsschwerpunktes zu sehen, wobei offenbar eine außereuropäische, „exotisch“ anmutende Sphäre favorisiert wurde. Im Gegensatz zum bedenklichen Inhalt steht die schöne Aufmachung des Buchs, noch deutlich dem Jugendstil verhaftet. Der Grafiker Max Schwerdtfeger hat noch andere Titel für den Verlag Rütten & Loening ausgestattet (u. a. Lord Dunsany: „Die Seele am Galgen“); auch als Kinderbuchillustrator ist er in Erscheinung getreten.