Beiträge von Anub




    ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS


    Andere Länder, andere Sitten

    In Deutschland sind belletristische Bücher entweder ein Roman, ein Erzählungsband oder eine Anthologie. Das

    Kombinieren eines langen Textes mit einem oder mehreren kürzeren hingegen ist nicht üblich. Außer vielleicht bei

    Werkausgaben. Hat ein Autor überwiegend Romane verfasst und nur zwei oder drei Erzählungen, dann bleiben die

    Erzählungen auf Anthologien oder Zeitschriften verstreut. Im russischen Buchwesen sieht man das pragmatischer.

    Es gibt dort den allgemeineren Begriff des Sammelbandes. Durchaus hilfreich, um das Schaffen eines Autors

    einschließlich der kurzen Texte ins Bücherregal zu bekommen und das auch noch so, dass es zusammen steht.

    Da ich den Bulytschow-Band ursprünglich selber verlegen wollte, hat mich niemand dazu gezwungen, mich an den

    deutschen Usus zu halten. Im Hinblick auf das Buch selbst bereue ich das auch nicht. Allerdings stellt sich im

    nachhinein heraus, dass sich an den verschiedensten Stellen (Online-Buchhandel, Forengliederung, Rezension

    etc.) für jemanden die Notwendigkeit zur Entscheidung ergibt, ob es sich nun um einen Roman oder einen

    Erzählungsband handelt. Da wir (der Verleger Hardy Kettlitz und ich) uns dafür entschieden haben, das Buch nicht

    nach dem enthaltenen Roman, sondern nach dem aufmerksamkeitsheischenderen Titel einer der Erzählungen zu

    benennen, ist die Einordnungsentscheidung in den mir bekannten Fällen bisher stets für "Erzählungsband" gefallen,

    was ich auf für die bessere Variante halte.


    Bedenken (I): Ist es genug SF?

    Vorweg: Ich halte alle 4 Texte für sehr gut. Da ist nichts nur als Füllmaterial in das Buch gekommen. Dennoch sollte

    es ursprünglich unter Beachtung der deutschen Sitte nur der Roman sein. Der ist in meinen Augen der einzige Text

    des Bandes, bei dem man bei der Erstellung einer SF-Bibliographie diskutieren kann, ob er wohl hinein gehört

    oder nicht. Um einer derartigen Diskussion hinsichtlich des Buches insgesamt vorzubeugen, habe ich die

    Erzählungen mit an Bord genommen. »Der einheitliche Wille ...« und »Der freie Tyrann« sind ja ganz offenkundig

    SF. »Der alte Iwanow« ist es auch, liest sich nur bis kurz vor Schluss nicht so. Die Erzählung wurde erstmals 1989

    veröffentlicht, ihr Ende spielt in den 1990er Jahren und ist in der Realität erfreulicherweise noch nicht so ganz

    eingetroffen.


     

    Vorder- und Rückdeckel von K. Bulytschows Sammelband »Das Treffen der Tyrannen« von 1992. Die Vorderseite illustriert die auch deutsch vorliegende Geschichte »Das Treffen der Tyrannen bei Rowno«. Der Rückdeckel zeigt als Illustration zu »Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« Leonid Breshnew als greisen Steuermann.


    Bedenken (II): Ist das was für deutsche Leser?

    Ich kann mich noch immer köstlich amüsieren bei der Lektüre der Titelerzählung und des »Alten Iwanow«. Aber

    werden das deutsche Leser, die vielleicht aus dem Westen kommen oder erst geboren wurden, nachdem der

    Sozialismus in Europa von der Bildfläche verschwunden war, auch so sehr können? In der Titelgeschichte kommen diverse historische Personen der Zeit vor, deren Namen heute vielen Lesern nichts mehr sagen werden. Ich habe versucht, das Problem durch Fußnoten etwas abzumildern.

    Die herrlich lakonisch geschilderten Taten des »Alten Iwanow« sind eine Art »Kurze Geschichte der Sowjetunion«.

    Aber ist dem deutschen Leser diese Geschichte hinreichend bekannt, um den historischen Kontext von Iwanows

    Aufgaben zu verstehen? Zumindest beim Auftrag von 1947 im Zusammenhang mit den Roggenweizenfeldern habe

    ich da Zweifel. Um so mehr freue ich mich, dass ich hier dazu einfach auf den informativen Wikipedia-Artikel zum

    Lyssenkoismus verweisen kann, einer Verquickung von Pseudoagrarwissenschaft und Ideologie.



    Russische Erstausgabe von »Der Tod im Stockwerk tiefer« aus dem Jahr 1989


    Kein Humor in »Der Tod im Stockwerk tiefer«?

    Der Roman ist im Unterschied zu den Erzählungen nicht satirisch oder parabelhaft angelegt. Hier wird gekonnt

    glaubhaft, realistisch und mit Blick für Details erzählt. Schon eine kleine Ungerechtigkeit, die dem Romanhelden

    zugefügt wird, erbost den Leser, während ihn - den Leser - die Todesopfer aus den satirischen Erzählungen

    vermutlich eher kalt lassen werden. In den Details finden sich auch folgende beispielhaft angeführten kleinen Schmunzelstellen, an die ich mich erinnere:

    - Bei der Fragerunde nach dem 2. Vortrag versucht der Funktionär, dem Helden Schubin einige der auf Zetteln

    nach vorn gereichten Fragen vorzuenthalten. Durch die Zustimmung des Publikums ermutigt, greift Schubin nach

    einem der aussortierten Zettel und gerät zu seiner Überraschung tatsächlich an eine Frage, die "nichts zur Sache

    tut".

    - Der Verweis auf den Größenunterschied der Namenszüge des Funktionärs und seiner Sekretärin neben der

    Bürotür. (In der deutschen Ausgabe haben wir übrigens zur Auflockerung die Stellen mit Schildern graphisch

    umgesetzt.)

    - Die Beschreibung des Büros des Funktionärs: Kurz zusammengefasst - retuschiertes Foto des

    Staatsoberhauptes, mehrbändige Ausgabe der Werke der Klassiker das Marxismus-Leninismus und diverser

    Politkitsch. "Genau so", habe ich da gedacht, obwohl ich wohl kaum mal in ein und demselben Funktionärsbüro wie

    Kir Bulytschow gewesen sein dürfte.


     

    Zwei Guslar-Sammelbände: »Eine hochverehrte Mikrobe« (2014) und »Ein Leben für einen Triceratops« (2016)


    Was hat Kir Bulytschow sonst noch so geschrieben?

    Viel, und zwar:

    - SF für Kinder, vor allem im Rahmen des Zyklus um das Mädchen Alissa

    - "Richtige" Weltraum-SF, zum Beispiel im Zyklus um den Weltraumarzt Pawlysch und in den beiden Romanen um

    den Agenten der Raumflotte Andrej Brjus

    - Abenteuer-SF u.a. im Rahmen des Zyklus »Die Galaktische Polizei«

    - humoristische und satirische SF, zum Beispiel in Form von ca. 115 meist kürzeren Texten des Zyklus um die

    Einwohner des Provinzstädtchens Groß Guslar (Der Held von »Der freie Tyrann« ist ein solcher Guslarer.)

    - den unvollendeten Zyklus »Der Fluss Chronos«, der zeitlich fast das gesamte 20. Jahrhundert abdeckt und

    dessen Helden in den ersten Bänden zeitweilig in alternative Nebenflüsse der Geschichte geraten, dem Leser

    später in den 1990er Jahren der Handlung in einem phantastischen Roman wiederbegegnen und schließlich in

    rein realistischen Kriminalromanen

    - den phantastischen dreibändigen »Schattentheater«-Zyklus

    - noch eine ganze Menge mehr

    Covergalerie aus einer russischen Bulytschow-Reihe auf meiner Homepage


    Was gibt es auf Deutsch?

    Übersicht über die deutschen Bücher Kir Bulytschows auf meiner Homepage

    Die verstreuten Erzählungen sind in der Bibliographie im Anhang des Buches aufgeführt.


     

    Der Lesetip »Überlebende« in der deutschen Ausgabe von 1995 und in einer russischen Ausgabe von 2019. Eine genaue Übersetzung des Romantitels würde übrigens »Die Siedlung« lauten.


    Spezielle Lesetips unter den anderen Büchern?

    - »Überlebende«: Roman aus dem Pawlysch-Zyklus über gestrandete Raumfahrer. Enthält als 1. Teil auch die

    vorher separat veröffentlichte längere Erzählung »Der Gebirgspaß«.

    - »Ein Takan für die Kinder der Erde«: Frühe Erzählungen, gruppiert zu den Abschnitten »Kosmische

    Begegnungen«, »Irdische Begebenheiten« und »Wunder in Guslar«


    Wie geht es weiter mit der »Bibliothek der Science Fiction des Ostens«?

    Da müssen wir erst noch ein wenig abwarten:

    Falls der Verleger sein Geld nicht wieder reinbekommt, wird der wahrscheinlich keine Lust auf weitere

    Experimente haben.

    Falls die Kritik zu schlecht ausfällt, werde ich wahrscheinlich keine Lust haben, noch einmal Zeit in ein solches Buchprojekt zu stecken.

    Für den Fall jedoch, dass beide Faktoren im grünen Bereich sind, hätte ich da schon mal Ideen für einen weiteren

    Band mit (diesmal wirklich ausschließlich) Erzählungen von Kir Bulytschow.


    Hinweis zur derzeitigen Verfügbarkeit des Bandes »Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes«:

    - eBook: überall im Online-Buchhandel

    - Klappenbroschur: momentan nur direkt beim Verlag, demnächst auch im Buchhandel

    - Gebundene Vorzugsausgabe: nur direkt beim Verlag


    »Wunder in Guslar« (1972): K. Bulytschows erster SF-Erzählungsband und nach dem Roman »Der letzte Krieg« (1970) sein zweites SF-Buch. Titelgestaltung von K. Bulytschows Frau Kira Soschinskaja.