DER KROCKETSPIELER (The Crocquet Player)
"Als Dr. Finchatton eine Praxis als Landarzt im beschaulichen Cainsmarsh übernimmt, ist er überzeugt, dass er in der ländlichen Idylle eine Zuflucht für den Rest seines Lebens gefunden hat. Doch der Schein trügt, denn immer wieder kommt es in der Gegend zu unerklärlichen und erschreckenden Vorfällen: Der Arzt findet einen totgeschlagenen Hund am Straßenrand, der Pastor einer nahegelegenen Gemeinde wird verhaftet, weil er seine Frau brutal verprügelt hat. Unter der idyllischen Fassade lauern Gewalt und Grausamkeit – und alles steht offenbar im Zusammenhang mit dem Schädel eines gigantischen Urmenschen, dessen dunkler Einfluss friedliche Menschen in mordlüsterne Tiere verwandelt."
Lovecraft trifft Freud, Weird Fiction trifft auf Psychoanalyse, in dieser kurzen und äußerst lesenswerten Novelle von H.G. Wells.
Erzählt wird die Geschichte in Form eines schriftlichen Berichts. Der Verfasser befindet sich zur Zeit der Niederschrift bereits am Rande des Wahnsinns. Schuld daran ist ein zufälliges Treffen mit einem gewissen Dr. Finchatton bzw. dessen höchst bizarre Erzählung: Auf der Flucht vor der Realität "all den Kriegen und Bombardements" übernahm dieser eine Arztpraxis in Cainsmarsh. Zunächst wunderte er sich noch über den starken Opiat und Schlafmittelkonsum der Bewohner, die vielen Selbstmorde und rätselhafte Verbrechen, doch schnell litt auch er unter entsetzlichen Alpträumen, Halluzinationen und Paranoia. Ein Zustand der bis heute anhält. Alle in Cainsmarsh haben Angst, ohne konkret benennen zu können warum und wovor eigentlich. "Man sah auf einmal unheilvolle Aspekte in den gewöhnlichsten Beziehungen. In jüngster Zeit verspüre er selbst ein seltsames Misstrauen seinem Essen gegenüber."
Doch was ist der Grund dafür? Der biblische Brudermörder Kain, der sich einst angeblich im heutigen Cainsmarsh niedergelassen haben soll? Ein satanischer Kult? Oder die archäologischen Ausgrabungen, die gerade überall stattfinden? "Die bringen immer wieder Sachen ans Licht", sagte er. "Sachen, die man besser in Ruhe lassen sollte. Ungestört lassen sollte. Die Zweifel und Fragen nach sich ziehen – den Glauben zerstören."
Ähnlich wie schon in "Die Erscheinung von Camford" geht es hier um Verdrängung bzw. im Fall von "Der Krocketspieler" eher um die Wiederkehr des Verdrängten (Triebe, Gewaltphantasien etc.), die man eigentlich ganz tief vergraben hatte. "Das Böse sei im Boden, verkündete er. Unter der Erde. Diese Worte betonte er ganz besonders >unter der Erde<."
Während in der einen Novelle die mahnende Stimme jedoch so lange ignoriert wurde, bis sie schließlich verschwand, kommt die Gewissheit und das damit einhergehende Entsetzen hier wie ein Virus über die Menschen, dem sie sich nicht mehr entziehen können. Dieses Phänomen scheint jedoch zunächst nur sensible Gemüter zu befallen. (Der Erzähler bezeichnet sich schon am Anfang als "Weichei". Dr. Finchatton erträgt es noch nicht mal morgens die Zeitung aufzuschlagen, aus lauter Angst vor den hypothetischen Schreckensnachrichten.)
Ausgelöst wird diese kollektive Massenpanik bei allen (Spoiler!) durch eine Art Selbsterkenntnis. Durch die Feststellung wie fragil unsere Gesellschaft ist und wie wenig sich der Mensch im Verlauf der Geschichte doch von seinem primitiven Ursprung entfernt hat. "Wahnsinn, Sir, ist, von der geistigen Seite her betrachtet, die Reaktion der armen Natur auf erdrückende Fakten. Er ist eine Flucht. Und heute verlieren überall auf der Welt intelligente Menschen den Verstand! Sie verzagen, weil sie erkennen, dass der Kampf gegen den Höhlenmenschen, der in uns ist, der wir faktisch sind, gegen dieses imaginäre Ich gerichtet ist. Nichts ist mehr sicher auf der Welt. Es war die reine Selbsttäuschung, dass wir ihn bezwungen hätten. Ihn! Den jagenden Unhold, der niemals aufgibt."
Die Auflösung hinter dem ganzen Spuk ist also eher psychologischer und weniger übernatürlicher Natur. Deswegen darf hier am Ende dann auch ein Psychiater oder Psychotherapeut (Wells verwendet die Bezeichnungen synonym) auftauchen. Wir beginnen bei Lovecraft und landen schließlich bei Freud. Ich weiß zwar nicht ob "Der Krocketspieler" wirklich "eins der besten phantastischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts ist", wie im Klappentext behauptet wird, aber es ist sicher eins der besten Bücher die ich bisher von Wells gelesen habe.