Inzwischen beendet...
Vorab:
Man kann dem Wandler Verlag gar nicht genügend dafür danken, dass er sich (neben Whitetrain) darum bemüht moderne Weird-Fiction nach Deutschland zu holen und Werke veröffentlicht, die hierzulande ansonsten nie eine Chance gehabt hätten. Damit dass ich irgendwann mal eine übersetzte Version von Vandermeers Romandebüt "Veniss Underground" in den Händen halten würde, hätte ich wirklich nie gerechnet.
Über das Buch -"Ich möchte dir von der Stadt erzählen" :
Präsentiert wird diese surreale Geschichte aus der Perspektive von drei Personen – Nicolas, Nicola & Shadrach:
Nicolas: Der erste und auch kürzeste Teil. Nicolas entwirft lebende Kunst und macht sich auf die Suche nach Quin - dem Prinzen der genetischen Erneuerung - um von ihm ein Erdmännchen zu kaufen. Quin ist so etwas wie der Herrscher/Schöpfer/Gott der Stadt Veniss, doch gesehen hat er ihn noch nie. Schon bald wird er sich wünschen, das wäre auch so geblieben: "Selbstportrait des Künstlers als ein Quader aus Fleisch, Farbgebung gelblich-braun, ähnlich einem Hauttransplantat, bevor es einheilt, und mit Augen gepickt – blinzelnden Augen und nicht blinzelnden Augen, Augen, die zwinkerten und alle starrten mich an, der ich sie anstarrte." Danach ist er spurlos verschwunden.
Aufgrund der Sprache, die Nicolas selbst kreiert hat und "Slangjockey" nennt, ist der Einstieg zunächst etwas gewöhnungsbedürftig und anstrengend, aber wenn man mal drin ist, entfacht das Ganze eine enorme Sogwirkung. Sowieso steigert sich die Geschichte von Kapitel zu Kapitel...
Nicola: Hier folgen wir Nicolas Zwillingsschwester, die sich nun auf die Suche nach ihrem verschollenen Bruder macht. Der Abschnitt ist in der Du-Form verfasst und die Sprache wesentlich poetischer als noch im ersten Teil. Hier finden sich auch leichte Elemente eines Detektivromans - Wenn Nicola den "Wald" erreicht, wird ihre Suche aber schnell zum reinen Horror: "Ihr seid nicht die Herren der Welt. Denn was Quin's Shanghai Menagerie bedeutet, ist das; die Auslöschung der Menschheit. Die Menschen an denen du auf dem Heimweg vorbeikommst, diese Lenkenden und Gelenkten – wissen sie schon, dass man sie vom Thron gestoßen hat? Dass sie am Ende sind? Wie lange, bis sie begreifen?"
Die lebenden Kunstwerke, die sich systematisch zerfleischen, haben mich zudem stark an Cronenberg (besonders dessen "Crimes of the Future") erinnert. Außerdem hat der Nicola-Part ein wirklich grandioses Ende. Danach wird man Erdmännchen garantiert nie mehr mit den gleichen Augen sehen!
Shadrach: Letzter und längster Teil. Shadrach ist der ehemalige Geliebte von Nicola und versucht herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Er begibt sich dafür in den Untergrund von Veniss und wühlt sich dort durch Berge von verfaulendem Leben und stinkenden Kadavern. Dort unten erwartet ihn seine ganz persönliche Hölle und je tiefer er kommt, desto grausamer und perverser wird es.
Ein extrem düsterer, intensiver und absolut hoffnungsloser Alptraumtrip, für den man bisweilen auch einen starken Magen braucht – Zum Beispiel wenn Shadrach die "Kathedrale des Blutes" erreicht: "Hinter diesem Tor – Fleisch, ungeheure Massen an totem Fleisch, menschliches Aas. Lebende Gestalten krochen darauf herum wie Fliegen, wie Maden, Kinder taten unaussprechliche Dinge mit zerstückelten Körpern. Sie gruben die Augen aus den Köpfen, die zwischen Metallstreben der Torflügel steckten..."
Erinnert anfangs an Dantes "Inferno", entwickelt sich aber irgendwann zur wirklich schrägen Rachestoty. Mit dem Gollux, der von sich nur in der dritten Person spricht, kommt gegen Ende dann sogar noch eine Prise Humor dazu ("Der Gollux ist ein makelhafter Befinde-Ort, nicht ein makelhafter Gollux."). Eine Figur die auch aus Hensons "Labyrinth" stammen könnte und die ich sofort in mein Herz geschlossen habe.
Fazit:
Experimentell, weird, surreal, anspruchsvoll, unglaublich intensiv, spannend, witzig und auch teilweise außerordentlich brutal. Mich hat Vandermeers Romandebüt ziemlich weggeblasen und ich konnte das Buch kaum auf der Hand legen.
Die extrem nihilistische Welt die er entwirft, könnte auch aus einem Anton Volodin-Roman stammen. An William Hope Hodgsons "Nachtlande" musste ich gelegentlich auch denken. Und Cronenberg-/Bodyhorror-Fans kommen bei der Lektüre sicher ebenfalls auf ihre Kosten. Was sich Vandermeer an Kreaturen/ Deformationen/ Mutationen ausgedacht hat, lässt jedenfalls selbst den Crawler aus "Annihilation" wie ein Schoßhündchen wirken. Eine wahre Symphonie der Fäulnis und Körpertransformation. Was den Ekel angeht, braucht sich das hier definitiv nicht vor Flavius Ardeleans "Der Heilige mit der roten Schnur" zu verstecken
Natürlich ist der Roman recht speziell und auch nicht für jeden geeignet, wer aber mit oben genannten Autoren/Künstlern etwas anfangen kann und/oder sämtliche Whitetrain-Veröffentlichungen und "Southern Reach"-Bände im Regal stehen hat, sollten hier definitiv zugreifen. In meinen Augen ist "Veniss Underground" ein absolutes Meisterwerk in Sachen Surrealismus und New-Weird! Und neben Alexander Zelenyjs "Tiere des Exodus" das Beste, was ich dieses Jahr gelesen habe. Man kann nur hoffen, dass das Buch nicht die letzte Vandermeer-Übersetzung aus dem Wandler-Verlag bleiben wird. (10/10)