Teil 4.
Zu Wort meldet sich ein Literaturforscher:
ANTONIJ POGORELSKIJS "HOFFMANNISMUS": ZUR RUSSISCHEN
BEARBEITUNG DER DEUTSCHEN ROMANTISCHEN TRADITION
Anastassija Sergeeva
(Nationale Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft ,Moskau)
Dem russischen Schriftsteller Antonij Pogorelskij ist oft der Vorwurf gemacht worden, er
hätte seine Motive und Sujets den deutschen Romantikern, nämlich E.T.A. Hoffmann,
entlehnt. Dieser Beitrag soll zeigen, dass Pogorelskijs Novelle „Die Mohnkuchenfrau von
Lafertowo“ nicht einfach eine Nachahmung, sondern eine kreative Bearbeitung romantischen
Ideen im Rahmen der russischen Kultur ist.
Im Jahre 1825 wurde „Lafertowskaja Makownitsa“, oder „Die Mohnkuchenfrau von
Lafertowo“ veröffentlicht. Diese erste Novelle von Antonij Pogorelskij war zurzeit neuartig
und wurde nicht von den meisten Lesern ernst genommen. Beispielsweise hat ein anonymer
Kritiker die fantastischen Motive als „zu märchenhaft“ bezeichnet. In den zahlreichen
derzeitigen Gutachten stand, Pogorelskijs Novelle zeigte den großen Einfluss von
Hoffmanns literarischen Werken. Pogorelskij ist vorgeworfen worden, er habe das
fantastische Sujet Hoffmanns Novelle „Der goldene Topf“ entlehnt.
Die spätere Kritik fand, Pogorelskij ersetzte die romantische Ironie durch den Humor,
und das Fantastische in Pogorelskijs Novelle sei dem Wesen nach ganz anders.
Wenn einer die Sujets Pogorelskijs fantastischer Novelle und Hoffmanns „Mährchens
aus der neuen Zeit“ vergleicht, treten einige Gemeinsamkeiten hervor. Die Handlung beider
Novellen spielt fast in der gleichen Zeit (am Ende des 18. Jahrhunderts und am Anfang des
19. Jahrhunderts). In beiden Novellen geht es um eine alte Frau, die Wahrsagerei treibt und
als märchenhafte Helferin für den Protagonisten auftritt. Die anderen Hauptfiguren beider
Novellen sind: die Philister (Konrektor Paulmann bei Hoffmann und Postmeister Onufritsch
als auch seine Ehefrau Ivanovna bei Pogorelskij) und ein sogenannter falscher Bewerber
(Registrator Heerbrand und Titularrat Murlykin). Ein magisches Ritual gibt es auch in beiden
Novellen. Die beiden Sujets finden ihren Ausklang mit der Hochzeit.
Zwar sind einige Parallelen präsent, aber die zwei Novellen unterscheiden sich
bedeutend. Nur einige Stellen oder Figuren können ähnlich aussehen, aber sie wirken eher
als feine Anspielungen. Die „Nachahmung“ ist also oberflächlich, was die unten angeführten
Beispiele beweisen werden. Als erstes beschreibe ich den Aufbau des fantastischen Raums,
sodann versuche ich, auf die Frage, warum Pogorelskij Lafertowo als Schauplatz gewählt
hat, zu antworten. Schließlich vergleiche ich die Beziehung zwischen diesem fantastischen
Raum und der realen Stadt in Hoffmanns und Pogorelskijs Novellen und die Mittel, mit
denen Pogorelskij den deutschen romantischen „Stoff“ russifiziert hat.
„Der Goldene Topf“ ist dadurch gekennzeichnet, dass die Handlung nicht in einem
unbestimmten „es war einmal“, sondern in Dresden spielt und fest mit dem Alltagsleben
verbunden wird. „Die Mohnkuchenfrau von Lafertowo“ hat auch einen ganz konkreten
Chronotopos, was schon aus dem Titel folgert. Deswegen wäre es sinnvoll, sich auf die
Repräsentation der Stadt in beiden Novellen zu konzentrieren.
Die Handlung beider Novellen spielt zu einer bestimmten Zeit und in einem
bestimmten Ort, die in den ersten Sätzen angegeben sind: „Лет за пятнадцать пред
сожжением Москвы недалеко от Проломной заставы стоял небольшой деревянный
домик“ („fünfzehn Jahre vor dem Brand von Moskau in der Nähe von Prolomnaja Stadttor
stand ein kleines Holzhaus“); „Am Himmelfahrtstage, Nachmittags um drei Uhr, rannte
ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Thor“. Der Leser erfährt sofort den Ort
und, was noch wichtiger ist, erkennt ihn auch. Im Unterschied zu Hoffmann, der auf den
kirchlichen Kalender anspielt, fügt Pogorelskij eine geschichtliche Ebene hinzu. Man könnte
einfach ausrechnen, dass die Handlung im Jahre 1797 spielt: das ist das Jahr des
Regierungswechsels, die Zeit der Ungewissheit, und diese Ungewissheit könnte dem Motiv
der Wahl des Lebensweg in Pogorelskijs Novelle entsprechen: die Hauptfigur, Mascha,
muss eine Wahl zwischen der Liebe und dem Reichtum und dem Willen ihrer Mutter – oder
zwischen dem Guten und dem Bösen – treffen.
In Dresden wohnte Hoffmann am Schwarzen Tor (Bautzner Tor oder Lausitzer Tor
heute), in der Holzhofgasse. Das könnte der Grund dafür sein, dass die Handlung seiner
Novelle auch hier am Schwarzer Tor beginnt. Warum wählt Pogorelskij Lafertovo
(Lefortovo) für seine Novelle? Lafertovo gehörte offiziell nicht zur Stadt, und bis Anfang
des 20. Jahrhunderts war es ein Stadtviertel am Rande, ohne Straßenlaternen und ohne
ordentliche – wie man heute sagt – Infrastruktur, bevölkert von Spießbürgern und Soldaten,
nicht belebt und dunkel. Außerdem ist dieser Stadtteil geschichtlich fremd: Hier lassen sich
die Engvertrauten Peter des Ersten nieder, die meistens Ausländer waren, zum Beispiel,
François Le Fort, nach dessen Namen das Stadtviertel genannt ist (interessante Bemerkung: Franz Lefort war ca.209 cm groß, Peter I. 204 cm groß und der andere lebenslange Zarenvertraute Danila Menschikow 196 cm groß) ; benachbart lag die fremde
Nemetskaja Sloboda (die Deutsche Siedlung), wo alle nach Moskau gekommene Ausländer
siedelten. Diese Fremdheit transformiert Pogorelskij in die Mystik, in das Fantastische, das
ebenso „verdächtig“ ist, wie die Ausländer damals galten, und dem man nicht anvertrauen
soll.
Der Vvedenskoje Friedhof, der in Pogorelskijs Novelle erwähnt wird, ist noch ein
Element im Bau des fantastischen Raums. Zur gleichen Zeit ist er doch ein realer Ortsname,
der den Leser in der Wirklichkeit hält. Wichtig ist, dass dieser Friedhof (der früher den Namen
„Немецкое“ oder „Deutsche“ hatte) andersgläubig war, und deswegen auch fremd. Der
Friedhof ist noch eine Konzentration des Fantastischen, das mit der Mohnkuchenfrau verbunden
wird: „С самого Введенского кладбища прыгающие по земле огоньки длинными
рядами тянулись к ее [Маковницы] дому“ („Von dem Vvedenskoje Friedhof her, in
langen Reihen zogen sich auf Mohnkuchenfraus Haus auf dem Erdboden hüpfende
Flämmchen“).
Der Leser sieht die Stadt auch mit den Augen der Helden. In „Der Goldene Topf“
träumt Veronika: „Sie war Frau Hofrätin, bewohnte ein schönes Logis in der Schloßgasse,
oder auf dem Neumarkt, oder auf der Moritzstraße“. Das ist der sozusagen
gesellschaftliche Blick eines Philisters, den die Romantiker gewöhnlich belachen. In
Pogorelskijs Novelle ist es nicht nur die Ansicht eines Helden, sondern die bewusste
Aufteilung der Stadt: „те только, которые, переменяя квартиру, переселялись далеко от
Лафертовской части, как, например: на Пресненские пруды, в Хамовники или на
Пятницкую, – те только осмеливались громко называть Маковницу ведьмою“ („nur
diejenigen, die beim Umziehen weit von Lafertowskaja Stadtteil siedelten – zum Beispiel,
an den Presnenskije Teichen, in Chamowniki oder in der Pjatnitskaja Straße, – nur diejenigen
wagten sich, die Mohnkuchenfrau „Hexe“ laut zu nennen“). Während diese Stadtviertel
sicher sind, ist Lafertowo ein Mittelpunkt alles Fremden und Furchtbaren. Pogorelskij
verwendet hier auch die vorhandene Mythologie der Stadt.
Hoffmanns altes Äpfelweib wohnt „in einer entlegenen Straße vor dem Seetor“. Es
liegt auch im Randgebiet, weit von dem Stadtzentrum, genauso wie Mohnfraus Haus. In „Der
goldene Topf“ ist das Seetor aber kein Mittelpunkt: Akzentuiert wird nur die Entlegenheit
dieses Orts. Im Unterschied dazu ist Lafertowo der Anfangspunkt: Das fantastische
Geschehen kann nur stattfinden, weil es in Lafertowo spielt.
Die Figurenkonstellation in „Der goldene Topf“ könnte auf folgende Weise dargestellt
werden. Archivarius mit seinen drei Töchtern sind die Figuren, die aus der romantischen
idealen Welt stammen und sich im Haus von Archivarius einrichten, das der Hauptpunkt des
Fantastischen ist; Konrektor und Veronika sind Philister, gehören zur realen Welt. Das
Äpfelweib bringt das märchenhafte Motiv hinein; ihr Ritual führt sie irgendwo ins freie Feld
auf dem Lande.
Wie sieht es in Pogorelskijs Novelle aus? Hier gibt es keine Oppositionen: Alle Helden
befinden sich im Raum der wirklichen Stadt, alle sind reale Figuren. Fantastisch ist hier nicht
eine bestimmte Figur, sondern die Stadt selbst, nämlich der Stadtteil Lefortowo.
Dass das Fantastische in Hoffmanns Novelle der „wunderbare herrlichste Teil“ des
Lebens ist, kann man nicht leugnen. Die Novelle erhält implizit eine ironische Behandlung
in Bezug auf Philister als auch auf die höchste ideale Welt, Atlantis, die man nie erreichen
kann und die vielleicht als Poesie bezeichnet werden könnte: „Da klopfte mir der Archivarius
Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: „Still, still, Verehrter! Klagen Sie nicht so! –
Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens
einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt
des Anselmus Seligkeit etwas Anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige
Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?“
Aber Pogorelskij geht einen Schritt weiter. Er denkt keine ideale Welt aus, und
deswegen braucht er auch keine Reflexion, die der romantische Schriftsteller treibt; die
Philister kritisiert Pogorelskij durch Humor.