Hier meine Rezi aus dem Horror-Forum, die ich damals abgespeichert hatte:
Die Idee, eine Hälfte der Menschheit in Dauerschlaf zu versetzen
und dies auf symbolträchtige Weise, in Kokons gehüllt, ist erst mal hochspannend.
Der Schauplatz, das Frauengefängnis in der für King obligatorischen Kleinstadt,
ist gut gewählt. Die Hauptcharaktere, Anstaltspsychologe Clint Norcross und
Polizeichefin Lila Norcross, sind in King-Manier facettenreich herausgearbeitet
und auf ihre Weise sympathisch, beide haben ihre Leichen im Keller. Dasselbe
(minus den Sympathiepunkt) gilt für die Antagonisten: Frank Geary, dessen Handlungsweise durchaus
nachvollziehbar ist, und der absolute Unsympath des Romans, Don Peters, sowie
die Hauptfiguren der zweiten Reihe (Insassen wie Jeanette Sorley oder Dr. Garth
Flickinger) und, abgeschwächt, für die zahlreichen Nebencharaktere. Eva Black
hat mir ebenfalls gut gefallen, weil sie bis zum Ende undurchschaubar bleibt
und King die Interpretation, wer oder was sie eigentlich ist, dem Leser
überlässt.
Die Fülle der Personen ist wiederum eine der Schwächen des
Romans, zum einen weil die Orientierung nicht immer
glatt gelingt, weshalb King auch gleich eine Figurenliste an den Anfang des
Buches gesetzt hat. Zum anderen sind etliche wenig bis gar nicht relevant für die
Handlung. Manche (z. B. Michaela Morgan sowie die Brüder Griner) hätte man auch
streichen können, da hätte nichts gefehlt. Ebenso hätte vielen Passagen eine
Straffung gutgetan (was wohl bei weniger prominenten Autoren verlagsseitig auch
rigoros eingefordert worden wäre, aber King ist eben King und darf sich
erlauben, was dem Durchschnittsautor angekreidet wird). Die Passagen an "unserem Ort" z. B. fand ich furchtbar langatmig.
Zum eigentlichen Inhalt möchte ich nicht viel sagen,
höchstens dass ich den Anfang (nach den ersten zähen Seiten) und mittleren Teil
des Buches am spannendsten fand, während mich der Showdown im Gefängnis nicht
wirklich mitreißen konnte.
Was das männerfreie Refugium der Frauen ("unser Ort") angeht, habe ich mich gefragt, wo all die anderen Frauen der Weltbevölkerung sind. Oder ob die Frauen aus
Dooling exemplarisch für alle stehen, entweder in der Geschichte/für
Evas Experiment oder für das Autorenduo King, sprich, es gab eigentlich unzählige Versionen "unseres Orts". Und was wäre passiert, hätten sich die Frauen anders entschieden? Ohne Männer hätte es in der Anderswelt ja auch keinen Fortbestand der Menschheit gegeben. Okay, dass die Entscheidung pro Rückkehr fällt, war irgendwie zu erwarten.
Aber gut, ein paar Längen kann ich King verzeihen, weil ich seine
Schreibe gern lese. Was mich allerdings stört, ist die Art, wie die
Gesellschaftskritik im Roman umgesetzt ist. Frauen sind i. d. R. gut, Männer
i. d. R. böse, das ist mir zu sehr Schwarz-Weiß-Denken, da hätte ich von einem
Stephen King mehr erwartet, gerade weil die Thematik auch heute noch so relevant
ist. Bei oft gutem Ansatz gleiten die einzelnen Geschichten zu häufig ins
Klischeehafte. Auch wird mit zweierlei Maß gemessen. Die Frauen im Gefängnis,
ob Mörderinnen oder was auch immer, sind nur aufgrund der üblen Behandlung
durch die Männer in ihrem Leben dazu getrieben worden. Schlagende, cholerische,
sexuell nötigende Männer sind dagegen einfach Arschlöcher. Das will ich
keineswegs in Abrede stellen, aber m. E. hätte es das Werk deutlich überzeugender
gemacht, wenn wenigstens eine wirklich fiese weibliche Figur mitgemischt hätte
(das hätte z. B. Michaela Morgan prima übernehmen können). Aber jede einzelne
wandelt sich entweder im Verlauf der Geschichte oder wird aufgrund ihrer Vergangenheit
vom Autor entschuldigt.
Von daher würde ich "Sleeping Beauties" als eines von Kings
Büchern einordnen, die man, wenn man seinen Stil mag, zwar gut lesen kann, zu
seinen großen Werken zählt es meiner Meinung nach nicht. Für King-Erstleser
würde ich es definitiv nicht empfehlen.