Für mich ist das Buch von Alexander Blumtritt ein wirklich überraschendes Leseereignis.
Ich zitiere einmal H.P. Lovecraft, da seine eigene Aussage zu seinen Texten mir häufiger vor Augen steht:
„Die Atmosphäre, nicht die Handlung ist es, die in der übernatürlichen Geschichte mit besonderer Sorgfalt gestaltet werden muss. [ .… ] Eine übernatürliche Geschichte kann ernsthaft nichts Anderes sein als ein lebhaftes Bild einer bestimmten Art menschlicher Gefühle“ Aus einem Brief Lovecrafts an Fritz Leiber vom 9.11.1936.
Ich sehe die Erzählung von Alexander Blumtritt auch in diesem Zusammenhang, denn der Titel „Die verschwiegene Schlucht“ deutet ja schon an, dass ein besonderer Ort die tragende Kraft des Textes sein könnte. Eine „Schlucht“ evoziert schon ein besonderes Bild, die „Verschwiegenheit“ etwas Geheimnisvolles. Dazu die im Text eingestreuten historischen Stiche von alpinen Landschaften.
Beim Lesen entfernt man sich durch die Augen des Erzählers allmählich aus der uns bekannten Realität und wird an einen unbekannten Ort geführt, der tatsächlich so existieren könnte. Durch besondere Umstände entsteht auch ein geändertes Verhältnis zur Dauer, den Tagen, Wochen, Monaten, Jahreszeiten. Der Autor schafft es, den Leser durch den Erzähler an diesen Ort außerhalb der Zeit zu schicken. Nebenbei wird hier auch die alte Frage berührt, welche bereits Aristoteles beschäftigte und Newton keinen Schlaf finden ließ: Leben wir in der „Zeit“ oder lebt die „Zeit“ vielleicht nur in uns? Blumtritts Sprachkunst trägt den Leser durch Wanderungen, Ausblicke, Bilder, Geräusche, Erlebnisse fort aus der eigenen Zeit, der eigenen Umgebung und lässt ihn eintauchen in die Gedankenwelt des Autors, der die Ereignisse so beschreibt, als hätte er sie selbst erlebt. Die Sprache atmet etwas Altes, etwas Sorgfältiges und Behutsames. Man merkt, dass der Autor großen Respekt vor den gewählten Wörtern hat. Ebenso vor der sich verändernden Menschlichkeit des Ich-Erzählers. Wie dessen Wahrnehmung sich schleichend wandelt, sein und unser Leben mit anderen Augen betrachtet ist großartig ausformuliert, gelassen und konsequent in Szene gesetzt.
Das Nachwort ist sehr gelungen, da man sich zunächst nicht aufmachen muss, um sich mit Sekundärtexten zur (Krypto-)Zoologie zu beschäftigen, denn automatisch möchte man mehr erfahren. Damit bettet der Autor seine rundum gelungene phantastische (?) Erzählung in einen größeren Zusammenhang. Ich setze das Fragezeichen, da ich Blumtritts Text trotz einer vorzüglich phantastischen Atmosphäre eigentlich keinem Genre zuordnen würde, denn ein Etikett ist selten hilfreich, sich Literatur wirklich vorurteilsfrei zu erschließen.