Mit ziemlicher Verspätung (wo bliebt nur die Zeit?!) komme ich - dank Elmar - auch mit einem Eindruck. Ehrlich gesagt bin ich zwiegespalten. Und zwar nicht, ob ich es gut oder nicht so gut finden soll, sondern: Ich liebe die erste Hälfte absolut und ohne Abstriche, und war in der zweiten ziemlich verloren. Das nicht, weil die Geschichte zu komplex wäre, sondern, weil es nach andauerndem - und zwar exzellent gemachten - Foreshadowing irgendwie keinen Payoff gibt.
Der Reihe nach: Das Setting sowohl vom Ort wie auch der Epoche her, sowie die Figuren sind ein richtiger Jörg-Fischer-Klassiker und imA auch absolut handwerkliche best practice. Jörg taucht richtig ein in diese Epoche, die etwas steifen Umgangsformen, die Haltungen von damals, ohne dass sich aber diese Steifheit auf mich als Leser überträgt. Ich feiere das sehr, so alles aus einem Guss, kein Rausfallen aus dem Tonfall, dem Vokabular, der Erzählhaltung und der Figurenzeichnung. Ich glaube zu wissen, dass Jörg da wirklich ganz in seinem Element ist, und das klingt so, als habe er sich beim Schreiben sehr wohl gefühlt. Trotz der Steifheit der Umgangsformen zwischen den Figuren hab ich den Eindruck, alles fließt im genau richtigen Tempo.
Das Ganze hat auch Lokalkolorit, und es wird ein literarischer Konflikt aufgebaut, der einerseits spekulativ (das Artefakt eben) und andererseits realistisch / historisch ist (die französischen Gefangenen und die sich verändernde Haltung des Erzählers dazu). Bis zu der Szene in der Bibliothek des Bruders finde ich alles sehr harmonisch - selbst mit den eingestreuten Zeitungsartikeln, was ich an sich nicht so arg gern mag - und auch sehr, sehr spannend sowie super sympathisch erzählt.
Dann kam ich irgendwie ins Schleudern. Es wird ziemlich achronologisch (jetzt nicht nur über die Zeitungsnotizen, sondern auch in der Erzählung der Ich-Figur selbst), und anstatt nun einen Payoff zu bekommen, also eine Weiterführung der angeteaserten Fäden (Artefakt, Buch, das seltsame Verhalten einiger Beamten, die schrägen Interessen des Bruders, ein vorzeitlicher Todeskult etc.) kommt nur noch mehr Foreshadowing, Andeutungen und vage Spekulationen - aber ab einem Punkt wünschte ich einfach, dass hier Butter bei die Fische kommt. Etwas Konkretes, das vllt. sogar direkt in der erzählten Zeit stattfindet. Dabei halte ich mich nun nicht für jemanden, dem man was mit dem Holzhammer beibringen müsste, so hoffe ich zumindest.
Durch die vielen, teils längeren Rückblicke kommt in diesen Sequenzen auch ein Hilfsverben-Overkill durch die ganzen hattes, was man durch eine nur leichte Umstrukturierung leicht hätte vermeiden können. An vielen Stellen wäre eh einfaches Perfekt besser gewesen - denn zur etwas förmlichen Epoche hätte es gut gepasst. (Und man kann es durchaus so machen, dass man nach einem PQP-Einstieg als Tempuswechsel-Anzeiger schnell wieder ins Perfekt geht, damit das alles flüssiger klingt).
Dass dann Menschen verschwinden - offensichtlich eine von den Behörden vertuschte Opferung - ist imA kein Payoff, denn wenn vorzeitliche Menschenopfer erwähnt werden, ist ja genau zu erwarten, dass dem in der erzählten Zeit auch jemand zum Opfer fällt. Aber irgendwie hatte ich fest damit gerechnet, dass eben die Erwartungen mit etwas übertroffen werden und - so wie ich es zumindest las - läuft es dann mit ein paar Andeutungen und Vermutungen in dieser Richtung aus. Auch das Leder des Buches hatte ich mir gleich gedacht.
Irgendwie las es sich für mich, wie wesentlich unkonzentrierter geschrieben / konzipiert als die erste Hälfte. Vielleicht liegt es aber auch an mir, obwohl ich es in Ruhe und in einer einzigen Session durchlas.
Nichtsdestotrotz gefällt es mir wahnsinnig gut, dass Jörg ohne Humor auskommt, dass es sehr lebensnah und doch glaubhaft historisch klingt und er einfach in der ersten Hälfte eine ganz wahnsinnig tolle Leserführung betreibt, nämlich eben mit den vielen kleinen Spannungspunkten. Es gibt sehr schöne Zeichnungen im liebevoll aufgemachten Buch, auch, wenn ich gewünscht hätte, der Hintergrund wäre etwas heller Grau gewesen (meine Augen finden wenig Kontrast nicht mehr so cool wie früher, auch ein Problem bei finnischen Metalmagazinen: schwarz auf Dunkelgrau oder weiß auf Mittelgrau). Ich bin jedenfalls trotz leichter Enttäuschung und Konfusion sehr froh, das Buch zu besitzen.
Ein Lovecraft-Feeling hatte ich gar nicht, und das ist absolut kein Kritikpunkt. Es sehe es eher im Sinn einer fiktionalen Place Lore. (Ja, klar: Der bereuende Erzähler, der aus dem Jetzt schaut, das Dräuen und das Verzögern von konkreten Bedrohungen - bzw. in diesem Falle beinahe die Negierung dessen - sind auch Kunstgriffe, die Lovecraft verwendet, aber andererseits gbt es das ja bereits in Gothic Tales und Klassischem Horror um 1900).