Urlaubszeit ist Lovecraftzeit. Aus gegebenem Anlass nahm ich mir also dieses bereits länger auf der Liste stehende Werk aus dem Regal.
Wie bereits zu erahnen ist, handelt es sich um den subjektiven Bericht eines Zeitzeugen. Der Autor ist Frank Belknap Long (1901 - 1994), der sich zu Beginn der 20er Jahre mit Lovecraft anfreundete und ihn vor allem durch gemeinsame Zeiten in New York City wirklich persönlich kannte (im Gegensatz zu bspw. August Derleth und Clark Ashton Smith). Auch wenn es von Long im Text nur da und dort vage angedeutet wird, so gilt es doch als allgemein bekannt, dass sein Bericht eine konkrete Reaktion auf Lyon Sprague de Camps Lovecraft-Biographie war, die nur kurz zuvor bei Doubleday erschienen war. Das englische Wiki sagt dazu:
ZitatLong's book-length memoir of H. P. Lovecraft, Howard Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightside, was issued by Arkham House in 1975. It was written in haste as a result of Long's reading of L. Sprague de Camp's Lovecraft: A Biography (1975), which Long felt to be biased against Lovecraft.
Niemand kann Long hier ernstlich widersprechen, sind de Camps subjektive Beurteilungen von Lovecrafts Lebensentscheidungen und Ansichten doch wirklich überflüssig, anmaßend und wenig hilfreich bei der Annäherung an einen Künstler. Einen gelungenen Gegenentwurf hat "Belknapius" - wie er von HPL auch genannt wurde - hier aber trotz korrekter Analyse der Sachlage nicht zustande gebracht.
Die Sache lässt sich erstmal brauchbar an. Long fasst gewissermaßen den aktuellen Stand zusammen und macht auch transparent, was das Publikum thematisch in seinem Buch erwartet. Ein löblicher Start, der Interesse zu wecken vermag. Leider lassen sich aus Longs recht groben Angaben heute nicht mehr ohne Weiteres Schlüsse ziehen. Wenn er z. B. das akademische Interesse an Lovecraft hervorhebt, aus dem Leserunden und Doktorarbeiten an diversen Universitäten erwachsen seien, dann kann man damit heute leider nicht viel anfangen. Auch Behauptungen wie "Lovecraft [hat] die Bewunderung vieler höchst unterschiedlicher philosophischer Kreise errungen" mögen sich damals dem am Tagesgeschehen geschulten Publikum von selbst ergeben haben - ich wüsste ad hoc nicht zu sagen, was und wen Long hier eigentlich meint. In Bezug auf das (von ihm hier übrigens völlig unkritisch übernommene) Mythos-Narrativ aus dem Hause Derleth schreibt Long, hier sei allgemein die Rede von "dem Mythos, der eine ganze Generation ergriffen hat". Wer das wann, wo und wie gesagt haben soll, diese Angaben bleibt er schuldig. Man stößt im Buch immer wieder auf derartige Behauptungen mit Andeutungscharakter, mehr Geraune als Benennung, sodass man sich eigentlich eine kommentierte Ausgabe gewünscht hätte, da man so entweder keinen Nutzen mehr daraus zieht oder aber seinen Zweifeln an mancher Aussage aus Mangel an Quellenangaben (die Long im Anhang selektiv durchaus gibt) nicht weiter durch Prüfung nachgehen kann. Manchmal will man den Autor aber auch geradezu verdammen, wenn er vielsagend andeutet, er wisse mehr, dann aber nicht mal einen Ansatz dieses angeblichen Wissens preisgibt (so z. B. in seiner Behauptung, mehr über den Verlust des Manuskripts von Imprisoned with the Pharaos zu wissen). Natürlich soll ein Autor hier nicht zur Klatschtante mutieren (wobei Long hier durchaus zur Geschwätzigkeit neigt), aber es kann nicht im Sinne des Erfinders sein, das Publikum mit literarisch schlechten Kniffen zu frustrieren.
Kritikwürdig ist auch Longs Schreibstil allgemein. Ist Long überhaupt jemals zu einem ernstzunehmenden Autor gereift? Ich bekomme langsam meine Zweifel. Wie sonst ist es zu erklären, dass Long die spannendsten Stellen des Textes versemmelt? Hier sind betuliche Superlative in Bezug auf Lovecrafts Briefe oder unzulässige Spekulationen hinsichtlich Lovecrafts Charakter, den er manches Mal unabhängig von Faktoren wie Sozialisation und psychologischer Formung wähnt, noch gar nicht angesprochen. Als Beispiel mag der Kalem-Katalog dienen, den uns Long hier mitgibt. Mehr als ein Katalog ist es tatsächlich nicht - eine Liste mit geordneten Informationen. Wollte Long ein Lexikon erstellen? Wer wissen mag, wo George Kirk seinen Laden betrieb, wer Samuel Loveman und Alfred Galpin waren oder was Donald Wandrei und Rhinehart Kleiner darstellten, der kann es ja nachschlagen. In einem solchen von einem Schriftsteller verfassten Zeitzeugenbericht will sowas aber doch niemand lesen! Höchstens in Ergänzung zu dem, was hier fehlt. Lebendige Schilderungen, spannende Diskussionsberichte von den Treffen, Szenenbeschreibungen mit exklusiven Details. Warum nimmt Long uns nicht mit in den Zirkel und seine spannenden Aspekte? Warum schildert er die lebhaften Abende nicht anhand konkreter Dialoge? Nichts dergleichen. Long handelt eine der reizvollsten Zeiten in Lovecrafts Leben ab wie ein Buchhalter. Selbst in der Tendenz gelungene Episoden sind schwächer, als sie sein müssten. So bleibt Longs Erzählweise selbst im Angesicht des puren Enthusiasmus seltsam steif. Während Lovecraft beschwingt in einem New Yorker Antiquariat die Regale beackert und am Ende Perlen von Machen bis Dunsany ergattert, bleibt der offenbar innerlich bereits jung ergraute Long distanziert. Statt sich dem Rausch hinzugeben, den wohl eifrige Liebhaber*innen des gebrauchten Buches kennen und schätzen, wägt er merkantilistisch ab. Sollte diese Art des Erzählens einen Versuch Longs darstellen, eine Objektivierung durch Distanzierung anzustreben, so ist die Sache mal gründlich misslungen. Ich habe allerdings aufgrund weiterer Indizien den Verdacht, dass uns hier der Autor als Persönlichkeit entgegentritt. Dazu gleich mehr.
Störend ist weiterhin die mäandernde Erzählweise. Ständig hüpft Long hin und her in Ort und Zeit, obwohl er regelmäßig ankündigt, nun solle es wirklich mal um dieses oder jenes gehen. Gesagt, schon wird wieder abgeschweift. Offenbar schrieb Long den Text wirklich in aller Eile. Störender als das mangelnde Handwerk ist jedoch - man wagt es kaum zu sagen - der Autor selbst, der sich uns notwendigerweise als Weggefährte andient. Was war eigentlich los mit diesem F. B. Long? Man hat ständig den Eindruck, er habe Lovecraft eigentlich nicht wirklich verstanden. Er versucht, dessen dunkle Seiten zu schönen, bzw., er schönt sie, indem er seinen naiven Zugang zur Welt repliziert und sich gar nicht denken kann, wie man dem nicht folgen könne. Er lobt diverse Eigenschaften über den grünen Klee. Niemals hat es einen freundlicheren und weniger selbstsüchtigen Menschen auf der Erde gegeben. Beeilt sich zu versichern, dass sein Kumpel in punkto Frauen "keine Ladehemmung" gehabt habe. Und überhaupt wisse ja niemand außer ihm, Long, wie aufgeschlossen und progressiv Lovecraft in Wahrheit gewesen sei. Auch habe er in Wirklichkeit natürlich vor überhaupt nichts Angst gehabt. Selbstverständlich hatte HPL keine "dunklen Geheimnisse", die man vermarkten könne, er war immer "authentisch". Okay. Zwischen diesen naiven Grobheiten und rührigen Verkleisterungen müssen die Leser*innen nun den Menschen Lovecraft irgendwie ermitteln. Wo kann er sich befinden? Doch wohl in einer der menschlichsten Eigenschaften überhaupt: dem Humor. In solchen Momenten tritt der Autor Long aber als wirklich unangenehm hervor, indem er sich als Biedermann und Pedant entpuppt, der sich ums Verrecken keine freundschaftlichen Spitznamen gefallen lassen mag ("dümmlich klingende Sprachspielchen" - herrje!) oder in lockeren Konversationen natürlich immer darauf hinweisen muss, dass auch er Nietzsche gelesen hat oder dies und das, ich bitte sehr, natürlich auch schon kannte. Man trage diesem Konrektor der Genre-Literatur bloß keinen Plauderton an. Natürlich ist dieser Herr viel zu weltgewandt und weise, um sich an Lovecrafts Späßchen im Nachgang eines Museumsbesuches zu beteiligen. Was wäre lächerlicher, als nach der Anschau einer Alt-Ägypten-Ausstellung Witze über einen pharaonischen Fluch zu reißen. Aber wenn es denn zur allgemeinen Belustigung beitrage, solle es ihm, dem großen Long, schon recht sein. Was soll man dazu noch sagen? Mach dich locker, Eckermann. Natürlich trägt Long auch hier zur Ungereimtheit des Textes fleißig bei, wenn er sich direkt im Anschluss dazu bekennt, sich an diese "lustigen Begebenheiten" am liebsten zu erinnern. Vom pompösen Pathos des Long, der z. B. das Herausgeben Lovecrafts zur "heroischen Saga" aufbauscht und dies in schockierender Kleinmütigkeit mit Wörterbucheinträgen belegt, will ich hier nicht mehr anfangen. Bemerkenswert, wie Long hier Lovecraft und sich selbst in einer Dynamik kreiert, die ihm seinen Gegenstand regelmäßig entwischen lassen.