Jean Ray: Malpertuis. Phantastischer Roman
Broschur, 213 Seiten. Deutsch von Rein A. Zondergeld. Nachwort von Jörg Krichbaum
Suhrkamp, Phantast. Bibliothek Bd. 165. Frankfurt a. Main 1986
Malpertuis und seine seltsamen Bewohner
Der Rosenkreuzer und Okkultist Cassave liegt im Sterben. An seinem Sterbebett hat er Familienmitglieder, Freunde und Bedienstete zusammengerufen. Das beträchtliche Vermögen wird unter den Anwesenden aufgeteilt. Mit der Bedingung, dass Cassaves Haus Malpertuis fortan ihr Wohnsitz sei und ein kleines Farbengeschäft, das sich daselbst befindet, weiterhin betrieben werde.
Die Schicksalsgemeinschaft setzt sich aus merkwürdigen Individuen zusammen. Da ist etwa der durchtriebene Onkel Dideloo, der Alice, der schönsten der drei Cormélon-Schwestern nachstellt. Einen Jagdtrieb anderer Art lebt Cousin Philarète aus: Als geschickter Präparator stopfte er ehedem das von Cassave erlegte Wild aus. In der Hoffnung auf irgendeine Rarität der Kleintierfauna platziert er seine Fallen auch auf dem Dachboden von Malpertuis. Da sind Nancy und ihr Freund Mathias Krook, die sich des Geschäfts angenommen haben. Weiter haben wir die rätselhafte Euryale – eine Schönheit mit rotblondem Haar und „Augen aus Jade“ . Sie ist denn auch der Augenstern unseres Erzählers Jean Jaques Grandsire, der freilich zwischen ihr und der ebenso anziehenden Alice Cormélon schwankt. Unablässig schleicht ein gebeugter, abgemagerter Mann mit verfilztem Haar im Haus umher: Lampernisse, der Hüter der Lampen. Seine Furcht gilt einem unsichtbaren Wesen, das es darauf angelegt hat, sämtliche Lichtquellen von Malpertuis zu löschen. Und wer ist jener strenge, gebieterische Herr namens „Eisgenott“, der sich nur selten – dann aber entscheidend – in die Angelegenheiten der Hausbewohner einmischt?
Der Lockruf von Malpertuis
Es erübrigt sich zu sagen, dass sich dieses Personal– das längst noch nicht vollständig ist – bestens eignet für die phantastischen Begebenheiten, die sich in den Mauern von Malpertuis abspielen. Was das Haus betrifft, so entzieht es sich einer eindeutigen Beschreibung. Es ist jedenfalls groß genug, um seine Einwohnerschaft zu fassen. Von den Schatten, die hier umgehen, ganz zu schweigen. Abgesehen von einigen Ausflügen ist es dieser verwunschene Bau – fürchterliches Vermächtnis des Onkels Cassave – der den größten Teil unserer Aufmerksamkeit und der Geschichte beansprucht. Wie ist das siebente Kapitel so treffend benannt: „Der Lockruf von Malpertuis“ …
Vorgehensweise und Vorbilder
Zum unabdingbaren Charakteristikum des Romans gehört, das er aus verschiedenen Erzählperspektiven heraus aufgebaut wird. Das Zentrum bildet die Schilderung des Jean Jaques Grandsire: er, der Neffe des verblichenen Cassave, ist’s, der die seelenzerstörenden Ereignisse im Haus Malpertuis hautnah erlebt. Seinen Erinnerungen vor- und nachgestellt sind die Zeugnisse anderer Personen, die mit ihm in Verbindung stehen und das Gesamtgeschehen erhellen. Diese komplexe Herangehensweise mag nur anfänglich etwas verwirren. Am Ende versteht es Jean Ray geschickt, alles miteinander zu verknüpfen, ohne offene Fragen schuldig zu bleiben.
Bedenkenswert sind zudem die den Kapiteln vorangestellten Eingangszitate. Sie geben einen Hinweis auf Rays Lektüre-Vorlieben oder sogar Einflüsse. Da finden wir Aussprüche von Nathaniel Hawthorne, Edgar Allan Poe aber auch von deutschsprachigen Phantasten wie Hermann Esswein oder Jakob Elias Poritzky. Und wenn unser Chronist den Ladendiener Mathias Krook mit an der Wand festgenageltem Kopf auffindet – dann wissen wir zwar nicht, welch böser Geist dies tat, wohl aber zeugt die Todesursache von Jean Rays Vorliebe für Wilhelm Hauffs „Geschichte vom Gespensterschiff“, in welcher der Kapitän das gleiche Schicksal erleidet.
Fazit
Man könnte Malpertius leichthin ein Spukhaus nennen, denn natürlich spukt es: Leute verschwinden spurlos, geisterhafte Musik erklingt und befremdliche Kreaturen treiben ihr Unwesen. Das wäre allerdings eine unzulässige Bemerkung angesichts Jean Rays ausgeklügelter Hintergrundgeschichte. Denn die Bewohner und Bewohnerinnen von Malpertuis sind nicht unbedingt Menschen wie du und ich … Die bizarre Konzeption des belgischen Autors funktioniert – trotz der klassischen Eingangszitate – ihrem Kern nach ohne historische Vorbilder und ist einmal mehr ein Beweis seiner Originalität. Angefixt von griechischer Mythologie, Geheimwissenschaften, klösterlicher Frömmigkeit und folkloristischen Motiven, hat Ray mit Malpertuis wohl eines seiner ambitioniertesten Werke vorgelegt. In puncto Eindrücklichkeit und düsterer Faszination steht es seinen meisterlichen, längeren Erzählungen wie „Die Gasse der Finsternis“ oder „Der Mainzer Psalter“ in nichts nach.
5 von 5 Daumen: