Da nun demnächst die HBO-Serie verfügbar sein wird und ich mir vorgenommen hatte, vorher in jedem Fall das Buch zu lesen, habe ich dem nun Taten folgen lassen- und es nicht bereut! Ich habe den Roman im Original gelesen, daher die Verortung im Fremdsprachen-Bereich.
phantastik-literatur.de/index.php?attachment/862/
Zunächst merkt man bald, dass die Inhaltsangabe etwas irreführend ist, wo ein Herr namens Atticus Turner als Hauptprotagonist ausgewiesen wird. Dies ist zwar zu Beginn nicht falsch, wird aber bald durch die Struktur des Buches relativiert, handelt es sich doch um einen Episoden-Roman. Da jede Episode eine eigene Hauptperson hat, die jeweils der Familie Turner oder einer Figur aus dem Bekanntenkreis entstammt, ist es treffender zu sagen, Hauptprotagonist*in sei die im Roman dargestellte Community, die vor allem eins gemeinsam hat: Schwarz zu sein, oder "of Colour", wie man es heute wohl auch nennt.
Es ist schwer, auf die Handlungen der Episoden und den verbindenden Meta-Plot einzugehen, ohne allzu viel preis zu geben. Zudem sind viele Kritiken aus der Presse, die das Buch nach seiner Übersetzung auch bei uns erhielt, irreführend. Handelt es sich um einen Horror-Schocker mit deplatzierter Sozialkritik? Billige Grusel-Unterhaltung auf Kosten einer diskriminierten Minderheit gar? Oder um steife, pädagogische Prosa mit antirassistischem Auftrag, die schauerliche Elemente zum Transport ihrer "Message" gebraucht? Ich sage: Nichts davon. Weiter war im deutschen Feuilleton vielfach zu lesen, die Kritik am Rassismus sei gelungen, bloß der phantastische Rattenschwanz sei irgendwie lästig. Darüber hinaus hieß es, mit Lovecraft könne die Sache nicht mithalten. Ich sage: Danke für weitere Beweise dafür, wie wenig deutsche Rezensent*innen bisweilen von ihrem Gegenstand verstehen.
Zur Sache: Matt Ruffs Episodenroman ist ein enorm geschicktes Spiel mit Doppeldeutigkeiten, ein komplexer Mix aus Phantastik und Realismus. Gewissermaßen Magischer Realismus ohne die Eröffnung einer neuen Realitätsebene - vielmehr transzendierendes Amalgam von Vorlagen aus Weird Fiction und Schauerroman sowie dem, was schwarze Menschen in den USA seit ihrer Gründung realiter an Ausgrenzung, Gefährdung, Marginalisierung und Gewalt erleben. Ruff gelingt es, phantastische Analogien aus der Klassiker-Kiste und Lovecrafts Ideenwelt über die Realität zu legen, ohne letztere dabei zu brechen.
Mit kosmischem Grauen hat das in der Tat nichts zu tun, soweit stimmt die Diagnose des Feuilletons. Das soll es aber auch gar nicht. "Lovecraft Country", das soll hier wörtlich genommen werden und auch wieder nicht, steht stellvertretend nur anteilig für das, was bei Lovecraft hinter der Realität lauert, viel öfter aber für das reale Grauen des berechtigterweise in Angst lebenden Menschen, des schwarzen Menschen in einer ihm bis ins Mark feindlich gesonnenen Umgebung. Hier zeigt sich an der Praxis, wie akademisch Lovecrafts Konzeption von „Angst“ eigentlich ist, denn wenn man sich zwischen der abstrakten „Fear of the Unknown“ nebst der Furcht vor identitärer Deplatziertheit auf der einen und ökonomisch-sozial-politischer Ausgrenzung sowie dem Lynchmob auf der anderen Seite zu entscheiden hat, dann dürfte die Wahl recht einfach sein.
Dennoch zeigt Ruff immer wieder, dass er das Zeug zu spannenden Gruselszenen hat, auch zu lovecraftigen Szenarien. Wenn sich Episoden im tiefen neu-englischen Hinterland oder auf seltsamen Planeten abspielen, dann weht der Geist des Meisters aus Providence da und dort durchaus durch die Zeilen. So manches Mal greift der Autor aber auch auf wahrlich klassisch Material zurück: Hexenkulte, Spukhäuser, Doppelgänger, magische Türen ins Gestern – das alles gibt es in „Lovecraft Country“. Oder etwa nicht? Die schon benannten Analogien machen die Verwendung der einschlägigen Stoffe spannend. Man wird flott unterhalten und hat gleichzeitig das Gefühl, ein gesellschaftlich sowie literarisch relevantes Projekt zu verfolgen. Was manche Kritik als "Schund" beschrieb, ist einfach gut geschriebener Unterhaltungsstoff mit Tiefgang. Die Botschaft: Immer, wenn das Phantastische in die Realität bricht, geht es eigentlich weiterhin um Rassismus, Machtasymmetrie und Ausbeutung. Transzendierung ja, Extinktion nein. Dass ein Autor hier ein kunstfertiges und manchmal wirklich originelles Spiel mit dem doppelten Boden betreibt, entging manchen Zeitgenoss*innen offenbar. Dass in einzelnen Episoden durchaus etwas platte oder überreich humorige Stellen auftauchen, fällt insgesamt kaum ins Gewicht. Man liest schnell darüber hinweg.
Ich empfehle das Buch rundheraus, warne aber Leser*innen mit Vorliebe für Eskapismus. Diesen findet man hier gewiss nicht vor, die Bereitschaft für den Einlass auf harte soziale und politische Realitäten muss man mitbringen. Da lässt sich unaufdringlich einiges lernen; wer hätte vor einem großen Hollywoodfilm hierzulande schon den „Safe Travel Guide“ für schwarze Reisende gekannt oder von den unfassbar grausamen „Tulsa Riots“ gehört? Das Fan-Herz schlägt natürlich dann höher, wenn es plötzlich um Pulp-Magazine und Comics geht, die in den 50ern die Runde machen. Da wird Lovecraft in schicken Arkham-House-Bänden ebenso gelesen wie Stevenson, Burroughs oder auch Smith und Blackwood. Dass es aber selbst hier nicht ohne das Grundthema des Buches geht, versteht sich von selbst. Spätestens in Tagen wie diesen sollte ohnehin jedem und jeder klar sein, dass das Problem sehr alt und sehr beständig ist, und zu omnipräsent, als dass man einfach pausieren könnte. Dennoch gelingt es Ruff, zwischen das grimme Abbild der Ereignisse Stellen zu streuen, die einfach richtig Laune machen. Das Buch hat mir nachhaltig Lust auf die Serie gemacht, die offenbar - so zeigt schon der Trailer - in Teilen sehr von der Vorlage abweicht. Was ich begrüße.
Ich habe, wie oben gesagt, die englische Version gelesen. Ich kann daher zur Übertragung, die 2016 (oder 2017?) im Hanser Verlag erschienen ist, nichts sagen.