Matt Ruff - Lovecraft Country

  • Da nun demnächst die HBO-Serie verfügbar sein wird und ich mir vorgenommen hatte, vorher in jedem Fall das Buch zu lesen, habe ich dem nun Taten folgen lassen- und es nicht bereut! Ich habe den Roman im Original gelesen, daher die Verortung im Fremdsprachen-Bereich.



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    Zunächst merkt man bald, dass die Inhaltsangabe etwas irreführend ist, wo ein Herr namens Atticus Turner als Hauptprotagonist ausgewiesen wird. Dies ist zwar zu Beginn nicht falsch, wird aber bald durch die Struktur des Buches relativiert, handelt es sich doch um einen Episoden-Roman. Da jede Episode eine eigene Hauptperson hat, die jeweils der Familie Turner oder einer Figur aus dem Bekanntenkreis entstammt, ist es treffender zu sagen, Hauptprotagonist*in sei die im Roman dargestellte Community, die vor allem eins gemeinsam hat: Schwarz zu sein, oder "of Colour", wie man es heute wohl auch nennt.


    Es ist schwer, auf die Handlungen der Episoden und den verbindenden Meta-Plot einzugehen, ohne allzu viel preis zu geben. Zudem sind viele Kritiken aus der Presse, die das Buch nach seiner Übersetzung auch bei uns erhielt, irreführend. Handelt es sich um einen Horror-Schocker mit deplatzierter Sozialkritik? Billige Grusel-Unterhaltung auf Kosten einer diskriminierten Minderheit gar? Oder um steife, pädagogische Prosa mit antirassistischem Auftrag, die schauerliche Elemente zum Transport ihrer "Message" gebraucht? Ich sage: Nichts davon. Weiter war im deutschen Feuilleton vielfach zu lesen, die Kritik am Rassismus sei gelungen, bloß der phantastische Rattenschwanz sei irgendwie lästig. Darüber hinaus hieß es, mit Lovecraft könne die Sache nicht mithalten. Ich sage: Danke für weitere Beweise dafür, wie wenig deutsche Rezensent*innen bisweilen von ihrem Gegenstand verstehen.


    Zur Sache: Matt Ruffs Episodenroman ist ein enorm geschicktes Spiel mit Doppeldeutigkeiten, ein komplexer Mix aus Phantastik und Realismus. Gewissermaßen Magischer Realismus ohne die Eröffnung einer neuen Realitätsebene - vielmehr transzendierendes Amalgam von Vorlagen aus Weird Fiction und Schauerroman sowie dem, was schwarze Menschen in den USA seit ihrer Gründung realiter an Ausgrenzung, Gefährdung, Marginalisierung und Gewalt erleben. Ruff gelingt es, phantastische Analogien aus der Klassiker-Kiste und Lovecrafts Ideenwelt über die Realität zu legen, ohne letztere dabei zu brechen.


    Mit kosmischem Grauen hat das in der Tat nichts zu tun, soweit stimmt die Diagnose des Feuilletons. Das soll es aber auch gar nicht. "Lovecraft Country", das soll hier wörtlich genommen werden und auch wieder nicht, steht stellvertretend nur anteilig für das, was bei Lovecraft hinter der Realität lauert, viel öfter aber für das reale Grauen des berechtigterweise in Angst lebenden Menschen, des schwarzen Menschen in einer ihm bis ins Mark feindlich gesonnenen Umgebung. Hier zeigt sich an der Praxis, wie akademisch Lovecrafts Konzeption von „Angst“ eigentlich ist, denn wenn man sich zwischen der abstrakten „Fear of the Unknown“ nebst der Furcht vor identitärer Deplatziertheit auf der einen und ökonomisch-sozial-politischer Ausgrenzung sowie dem Lynchmob auf der anderen Seite zu entscheiden hat, dann dürfte die Wahl recht einfach sein.


    Dennoch zeigt Ruff immer wieder, dass er das Zeug zu spannenden Gruselszenen hat, auch zu lovecraftigen Szenarien. Wenn sich Episoden im tiefen neu-englischen Hinterland oder auf seltsamen Planeten abspielen, dann weht der Geist des Meisters aus Providence da und dort durchaus durch die Zeilen. So manches Mal greift der Autor aber auch auf wahrlich klassisch Material zurück: Hexenkulte, Spukhäuser, Doppelgänger, magische Türen ins Gestern – das alles gibt es in „Lovecraft Country“. Oder etwa nicht? Die schon benannten Analogien machen die Verwendung der einschlägigen Stoffe spannend. Man wird flott unterhalten und hat gleichzeitig das Gefühl, ein gesellschaftlich sowie literarisch relevantes Projekt zu verfolgen. Was manche Kritik als "Schund" beschrieb, ist einfach gut geschriebener Unterhaltungsstoff mit Tiefgang. Die Botschaft: Immer, wenn das Phantastische in die Realität bricht, geht es eigentlich weiterhin um Rassismus, Machtasymmetrie und Ausbeutung. Transzendierung ja, Extinktion nein. Dass ein Autor hier ein kunstfertiges und manchmal wirklich originelles Spiel mit dem doppelten Boden betreibt, entging manchen Zeitgenoss*innen offenbar. Dass in einzelnen Episoden durchaus etwas platte oder überreich humorige Stellen auftauchen, fällt insgesamt kaum ins Gewicht. Man liest schnell darüber hinweg.


    Ich empfehle das Buch rundheraus, warne aber Leser*innen mit Vorliebe für Eskapismus. Diesen findet man hier gewiss nicht vor, die Bereitschaft für den Einlass auf harte soziale und politische Realitäten muss man mitbringen. Da lässt sich unaufdringlich einiges lernen; wer hätte vor einem großen Hollywoodfilm hierzulande schon den „Safe Travel Guide“ für schwarze Reisende gekannt oder von den unfassbar grausamen „Tulsa Riots“ gehört? Das Fan-Herz schlägt natürlich dann höher, wenn es plötzlich um Pulp-Magazine und Comics geht, die in den 50ern die Runde machen. Da wird Lovecraft in schicken Arkham-House-Bänden ebenso gelesen wie Stevenson, Burroughs oder auch Smith und Blackwood. Dass es aber selbst hier nicht ohne das Grundthema des Buches geht, versteht sich von selbst. Spätestens in Tagen wie diesen sollte ohnehin jedem und jeder klar sein, dass das Problem sehr alt und sehr beständig ist, und zu omnipräsent, als dass man einfach pausieren könnte. Dennoch gelingt es Ruff, zwischen das grimme Abbild der Ereignisse Stellen zu streuen, die einfach richtig Laune machen. Das Buch hat mir nachhaltig Lust auf die Serie gemacht, die offenbar - so zeigt schon der Trailer - in Teilen sehr von der Vorlage abweicht. Was ich begrüße.


    Ich habe, wie oben gesagt, die englische Version gelesen. Ich kann daher zur Übertragung, die 2016 (oder 2017?) im Hanser Verlag erschienen ist, nichts sagen.

  • Ich habe die deutsche Version damals Rücken an Rücken mit Victor LaValles "The Ballad Of Black Tom" gelesen und beide Bücher sehr gut gefunden. Matt Ruffs Buch sogar noch relevanter, weil er sehr explizit (aber niemals moralinsauer mit erhobenem Zeigefinger) mit dem Finger auf die HPL-Wunde drückt.

  • Ich habe das Buch damals ignoriert, weil ich mit den furchtbaren "Man muss es loben weils Rassimus anprangert, aber eigentlich würde man es lieber verreißen" Rezensionen, die ich gelesen hatte, nichts anfangen konnte.

    Also vielen Dank Nils für seine Rezi, jetzt kann ich das Buch wenigstens einschätzen. Ich glaub es ist nicht so 100 Prozent mein Fall darum werde ich es akut nicht lesen aber wenn es mal als Schnäppchen irgendwo meinen Weg kreuzt nehme ich es wohl mit.

  • Freut mich, dass die Besprechung auf Resonanz stößt und ggf. hilfreich sein konnte.


    Victor LaValles "The Ballad Of Black Tom"

    Auf das Buch bin ich tatsächlich irgendwie erst jetzt gestoßen, bin gerade auf der Suche nach einem Angebot. Neulich hatte ich mir noch The Night Ocean von Paul La Farge zugelegt, was ja auch in eine ähnliche Kerbe schlägt, glaube ich.

  • Ich habe die deutsche Version damals Rücken an Rücken mit Victor LaValles "The Ballad Of Black Tom" gelesen und beide Bücher sehr gut gefunden.

    Da hoffe ich ja immer noch auf eine Übersetzung. Vielleicht ja in der neuen Festa-Reihe. Auch wenn der Verlag mit Lovecrafts Rassismus ja generell recht unreflektiert umgeht.

    Und da wir gerade beim Thema sind: Ist "Lovecraft Country" eigentlich eine gebräuchliche Bezeichnung? Ich kenne den Begriff jedenfalls nur aus diesem Buch und dort ist er ja ganz klar negativ konnotiert... also im Sinne von "No Country for Black Men".

    Ich frage auch, weil sich Michael Marrak im Vorwort von deinem "Hotel Kummer" auf diese Bezeichnung bezieht und von einem "Andaraland" spricht. Fand ich in dem Zusammenhang ziemlich irritierend.

    Eine Rezension, die dem Forum zu Ehren gereicht!

    Dem Stimme ich zu. Genau wie Nils Meinung zum Buch, die ich so sofort unterschreiben würde. Auch wenn ich es niemals so eloquent hätte ausdrücken können.

    Neulich hatte ich mir noch The Night Ocean von Paul La Farge zugelegt

    Nie davon gehört. Danke für den Tipp.

    oder von den unfassbar grausamen „Tulsa Riots“...

    Sind auch wichtiger Bestandteil der HBO-Serie "Watchmen", die ähnlich wie "Lovecraft Country" das Thema Rassismus mit dem Phantastik-Genre verknüpft. Die extrem politische und clevere Serie kann ich nur wärmstens empfehlen. Auch wenn ich es eigentlich immer äußerst kritisch sehe, wenn versucht wird, dass "Watchmen"-Universum fortzusetzen. Schöpfer Alan Moore vertritt diesbezüglich ja einen klaren Standpunkt... Wenn man sich davon aber freimachen kann, ist die Serie tatsächlich ein kleines Meisterwerk und hat absolut nichts mit dem ganzen Marvel-/DC-Quark zu tun.

  • Zitat


    Ist "Lovecraft Country" eigentlich eine gebräuchliche Bezeichnung?

    Ja, schon:

    Lovecraft Country, also referred to as Miskatonic Country or the Miskatonic Region, is the area of New England in which many stories of the Cthulhu Mythos are set. Centered on Arkham, Massachusetts - the home of Miskatonic University - it also includes Innsmouth, Kingsport and Dunwich.


    https://en.wikipedia.org/wiki/Lovecraft_Country

  • Nochmals Dank für euer mir teures Lob! :)

    Auch wenn der Verlag mit Lovecrafts Rassismus ja generell recht unreflektiert umgeht.

    Wie kommst du darauf? Ich habe mir da bisher keine Gedanken zu gemacht, deine genaue Meinung würde mich aber interessieren.


    Sind auch wichtiger Bestandteil der HBO-Serie "Watchmen", die ähnlich wie "Lovecraft Country" das Thema Rassismus mit dem Phantastik-Genre verknüpft.

    Oh, okay. Das hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Auch im Film? Den habe ich vor langen Jahren mal gesehen, hatte sich dann aber offenbar nicht in mein Gedächtnis gegraben.

  • Wie kommst du darauf?

    Ach, nur meine eigene unreflektierte Meinung.

    Oh, okay. Das hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Auch im Film?

    War kein Bestandteil der Comics oder des Films. Die Serie setzt generell ganz andere Schwerpunkte und bezieht sich stark auf die momentane politische Lage in Amerika (Police Brutality, Black Lives Matter, Trump, White Supremacy...)