Edgar Mittelholzer: Eltonsbrody

  • Hier kommt die versprochene Vorstellung von „Eltonsbrody“. dem zweiten phantastischen Hauptwerk des karibischen Autors Edgar Mittelholzer. Es wurde 1960 zum ersten Mal publiziert (neu erschienen bei Valancourt 2017, 164 Seiten).


    Ostküste Barbados 1958: Der junge Maler Woodsley (ja, immer noch jung – das war er ja schon bei seinem Abenteuer Anfang der 1930er Jahre in Britisch-Guyana) kommt zum Osterurlauben in die Region Bathsheba/Martin’s Bay. Die Bewohner der Gegend haben sowohl schottische als auch afrikanische Vorfahren und leben, wenn nicht vom Tourismus, dann vom Fischfang. Woodsley muss zu seinem Leidwesen feststellen, dass wegen der Schwemme an Ostertouris sämtliche Unterbringungsmöglichkeiten ausgebucht sind. Da er auch privat zunächst keine Unterkunft findet (die Fischer sind gegenüber Fremden ziemlich verschlossen), irrt er in der Gegend herum, bis ihn ein Busfahrer auf Eltonsbrody hinweist, einem zweistöckigen Herrenhaus ganz in der Nähe, einsam gelegen inmitten von Zuckerrohrfeldern. (Die Nachahmung des schottisch-kreolischen Slangs, die sich durchs Buch zieht, finde ich köstlich. So sagt der Busfahrer zu Woodsley: „Go up and try de big house you see yonder, chief. De ole lady, she’s a koindly lady. She sure to help you out for de noight.“)


    Die Besitzerin von Eltonsbrody, eine ältere Dame namens Dahlia Scaife, ist die Witwe von Dr. Michael Scaife, einem Arzt. Sie lebt dort allein mit ihrer Dienerschaft: Tappin, Hausmeister und Mädchen für alles, McTurk, Aufseher über das Vieh, Jackman, die Köchin, Malverne, das Zimmermädchen sowie Bayley, ein Junge, der für Botendienste eingesetzt wird.


    Woodsley glaubt zunächst, dass er es gut getroffen hat: Die alte Dame nimmt ihn herzlich und gastfreundlich auf, ohne nach Bezahlung zu fragen, und freut sich aufrichtig über seine Gesellschaft in ihrem einsamen Herrenhaus. Nach ein paar Tagen Aufenthalt beschleicht Woodsley jedoch das Gefühl, dass mit Mrs. Scaife und dem Haus doch nicht alles in Ordnung ist. Da sind zum einen Räume im ersten Stock, die seit Jahren nicht mehr geöffnet worden sind und die für die Dienstboten verboten sind. Da ist auch die seltsame Beziehung von Mrs. Scaife zu ihrem Sohn Mitchell. Die sonst so herzliche Lady hasst Mitchell und dessen Frau, liebt aber deren Sohn, ihr Enkelkind Gregory, über alles. Und auch einige der Dienstboten scheinen nicht ganz von dieser Welt: Malverne beispielsweise pflegt vor Fremden und Hausinsassen ihre Brüste zu entblößen, aber nicht aus sexuellen Motiven. Dazu kommt die unheimliche, düstere Atmosphäre des Hauses. Der Wind zieht durch alle Löcher in der Hauswand und ständig hat Woodsley das Gefühl, von den Luftwirbeln, die das Haus „bevölkern“, angegriffen zu werden. Auch andere Gegenstände im Haus haben in seiner Imagination (oder ist es keine Imagination?) ein unheimliches Eigenleben.


    Dann passieren mehrere Dinge kurz hintereinander: Mrs. Scaifes Enkel Gregory stirbt, sie scheint darüber aber nicht sonderlich traurig (warum das so ist, erschließt sich dem Leser am Ende des Romans). Dann erleidet Malverne (angeblich) einen Unfall – sie fällt die Treppe vom ersten Stock ins Erdgeschoss hinunter und verletzt sich lebensgefährlich. Es stellt sich heraus, dass sie von einem „Gesicht“ im Treppenhaus fast zu Tode erschreckt wurde. Mrs. Scaife nimmt auch diesen Vorfall relativ gleichgültig auf. Woodsley wird immer irritierter, der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Vorfälle scheint irgendwie Mrs. Scaife zu sein, aber Woodsley kommt nicht dahinter, was das zu bedeuten hat. Nach und nach aber eröffnet Mrs. Scaife Woodsley ihr Innenleben: Sie hasst Menschen, die nicht das Zeichen des Todes im Gesicht tragen (damit erklärt sich der Hass auf Mitchell und die Sympathie für Woodsley und Gregory, die beide angeblich dieses Zeichen tragen). Sie kann Todesfälle vorhersagen. Sie ist vom Tod und dem Sterben seit ihrer Kindheit fasziniert. So hatte sie sich, als sie ein junges Mädchen war, des Nachts aus dem Haus geschlichen und stellte ihrem Vater und ihren Brüdern nach – alle Fischer – weil sie den Anblick des Todes und des Todeskampfes genießen wollte, falls diese bei ihrer gefährlichen Arbeit ums Leben kommen würden. Und sie liebt das Grab ihres Mannes auf dem nahegelegenen Friedhof geradezu abgöttisch. Woodsley entwickelt nun mehr und mehr Wut auf und Verachtung für Mrs. Scaife. Es gibt da aber ein kleines Problem: Obwohl Woodsley in den Gesprächen mit Mrs. Scaife zunehmend aufdreht, bleibt diese freundlich, hilfsbereit und gastfreundlich. Er prallt gewissermaßen an ihr ab. Ferner steht er vor drei Möglichkeiten: Mrs. Scaife will ihn mit all dem veralbern und hat einen Humor, der mit „exzentrisch“ wohl nur unzureichend beschrieben ist (und in der Tat verabreicht sie ihm die Informationen über sich meist glucksend und kichernd, wie einen guten Witz), oder sie hat schlichtweg ein Rad ab, oder es steckt noch mehr dahinter, als Woodsley ahnt.


    Dann treten zwei weitere Personen auf den Plan. Die eine ist Miss Linton, eine Krankenschwester, die vom Arzt als Pflegerin für die im Haus versorgte schwerverletzte Malverne geschickt wird. Malverne wird von Mrs. Scaife zwar geduldet, aber in den wenigen Wortwechseln eiskalt abserviert, denn sie hat nicht das Zeichen. Und dann ist da noch Borkum. Er ist der Vorgänger von Tappin und hatte seine Arbeit auf Eltonsbrody nach dem Tod von Dr. Scaife aufgegeben, ist aber für Mrs. Scaife irgendwie noch aktiv und bekommt eine Menge Geld von ihr. Einmal belauscht Woodsley, von einem Spaziergang kommend, Mrs. Scaife und Borkum, wie sie sich an einem Grab auf dem Friedhof zu schaffen machen, kann den Grund aber nicht erkennen. Borkum scheint ferner weitere, ungute Geheimnisse zu haben.


    Zunehmend erschreckt das Haus seine Gäste: Woodsley und Miss Linton werden so etwas wie Verbündete in der Not, können aber weitere seltsame Vorfälle nicht verhindern. Beispielsweise entdecken sie ein Haarbüschel mit daran hängender Kopfhaut auf einer Treppenstufe, wissen aber nicht, wer es dahingelegt haben könnte und von wem es stammt.


    Und dann verschwindet Miss Linton spurlos. Nun entbrennt zwischen dem wütenden Woodsley und Mrs. Scaife endgültig ein psychischer Zweikampf, bei dem Mrs. Scaife Woodsley aber immer eine Nasenlänge voraus ist. Sie ist gegenüber Woodsley immer noch freundlich, wie am Anfang ihrer Bekanntschaft, obwohl er zunehmend unfreundlich auftritt und nun ihre Geheimnisse nicht mehr respektiert. Woodsley will unbedingt herausfinden, was geschehen ist (bzw. was geschehen soll) und erhält nun von Tappin und Jackman Unterstützung, die von Mrs. Scaifes Verhalten ebenfalls zunehmend irritiert sind. Alles strebt langsam einem düsteren Finale entgegen, das Mrs. Scaifes Geheimnis und das von Eltonsbrody enthüllen wird.


    Zuerst zum Positiven des Romans (ich lasse hier mal offen, ob die Vorgänge übersinnlich sind oder nicht – sonst müsste ich spoilern). Es ist ein düsterer, pessimistischer Roman, ganz anders als „Gebein und Flöte“, und die düstere Atmosphäre hat Mittelholzer meiner Meinung nach wunderbar hinbekommen. Es geht sehr viel um die psychischen und seelischen Abgründe von Menschen: Eine Reihe von skurrilen Figuren laufen hier durchs Bild. Wenn diese (zunächst harmlos erscheinenden) skurrilen Eigenschaften auch allein für sich genommen zunächst ein leichtes Schmunzeln hervorrufen, kippt die Stimmung im Verlauf der Handlung in Richtung Irritation, dann Abscheu. Hier gelingen Mittelholzer differenzierte psychische Feinzeichnungen.


    Vom Finale war ich etwas enttäuscht, mag aber sein, dass meine Ansprüche durch die vorhergehende Geschichte einfach zu sehr gesteigert wurden. Die Erklärung für all die Vorgänge, die vom Finale hervorgebracht wird, ist allerdings recht krass.

  • delijha

    Hat den Titel des Themas von „Edgar Mittelholzer“ zu „Edgar Mittelholzer: Eltonsbrody“ geändert.
  • Hallo Axel,

    nein, kann man so nicht sagen. Eltonsbrody ist mehr die Kulisse für das Duell zwischen Woodsley und Mrs. Scaife. Dieses Duell wird jedoch auch am Meer, auf dem Friedhof und auf dem Grundstück ausgetragen. Allerdings hält auch Eltonsbrody einiges an Unheimlichem bereit: die verschlossenen Zimmer, der Unfall von Malverne, die unheimlichen Luftwirbel im Haus. Als Woodsley in die verbotenen Zimmer eindringt, macht er einige Entdeckungen, die letztendlich zur Lösung des Rätsels führen. Aber nur ein Teil des unheimlichen Finales findet im Haus statt.

    Ich würde somit nicht sagen, dass Eltonsbrody eine Spukhausgeschichte ist, obwohl Mittelholzer sehr wohl eine Reihe von Elementen des Spukhausmotivs in seine Erzählung eingebaut hat. Eigentlich müsste der Titel des Buches aber "Mrs. Scaife" heißen, und nicht "Eltonsbrody".

  • Vielen Dank für diese nochmalige Einschätzung und Erklärung. Hört sich nach wie vor gut an … allerdings wird es der Titel nicht in nächster Zeit auf meine Leseliste schaffen. Aber vielleicht mache ich erst einmal einen zweiten Versuch mit "Gebein und Flöte".