Edgar Mittelholzer

  • Ich möchte heute mit Edgar Mittelholzer einen weiteren Schriftsteller präsentieren, der im Bereich der unheimlichen Phantastik meines Erachtens Überragendes geleistet hat, jedoch in keinem einschlägigen Lexikon zu finden ist.


    Edgar Austin Mittelholzer (*16. Dezember 1909, +5 Mai 1965) wurde in New Amsterdam in der damaligen Kolonie Britisch-Guyana (Südamerika) geboren. Trotz seines deutschen Namens war er Kreole, mit Vorfahren aus der Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Afrika. Er ist einer der bekanntesten Romanschriftsteller Westindiens und der wohl erste Schriftsteller dieser Region, dessen Werke überregionale Bedeutung erlangten, gerade auch in Europa. Er siedelte später nach Barbados über, dann nach England, wo er 1965 Selbstmord beging, wohl weil ihm seine finanziellen Probleme über den Kopf gewachsen waren. Seine Romane spielen an verschiedenen Orten der englischsprachigen Karibik, mal in der Zeit der ersten europäischen Besiedelung, mal im 20. Jahrhundert. Sehr häufig sind seine Romancharaktere Kreolen. Eine Reihe seiner Werke wurde auch ins Deutsche übersetzt. Zwei seiner Romane sind der unheimlichen Phantastik zuzuordnen, nämlich „My Bones and my Flute“ (1989 als „Gebein und Flöte“ erschienen bei Fischer in der Reihe „Bibliothek der phantastischen Abenteuer“) und „Eltonsbrody“ (keine deutsche Übersetzung, 2017 neu erschienen bei Valancourt).


    „My Bones and my Flute“ ist eine Geistergeschichte. Sie spielt Anfang der 1930er Jahre in Mittelholzers Heimat Britisch-Guyana und zwar im Nordosten, in der Gegend, die zunächst von niederländischen Siedlern kolonisiert worden war und die dann von den Briten verdrängt worden waren. Die Geschichte beginnt in New Amsterdam in der Berbice-Region von Guyana. Den jungen Maler Milton Woodsley (der Ich-Erzähler ist ein Alter Ego von Mittelholzer) verbindet eine enge Freundschaft mit Ralph Nevinson, einem reichen Holzunternehmer und dessen Familie. Beide teilen unter anderem das Interesse an der frühen europäischen Geschichte von Guyana. Eines Tages lädt Nevinson Woodsley ein, ihn mit dessen Familie (seiner Frau und seiner Tochter Nell) nach Goed de Vries zu begleiten, einem Sägewerk am Berbice-Fluss mitten im Dschungel. Der Zweck der Reise ist angeblich der, dass Nevinsons Firma ein paar Dschungelbilder von Woodsley gemalt haben möchte. Als die Schiffsreise den Berbice-Fluß hinauf in die Urwaldregion nach Goed de Vries beginnt, erfährt Woodsley von Nevinson nach und nach, worum es bei der Nummer wirklich geht: Nevinson hat nämlich einen Fluch auf sich geladen (Frau und Tochter wissen (noch) nichts darüber – sie denken, es ginge auf eine Urlaubsreise). Er hatte von einem Indio ein altes handgeschriebenes Dokument eines niederländischen Siedlers, Jan Pieter Voorman, geschenkt bekommen. Das Dokument soll ihm Glück bringen, solange er es nicht berührt. Nevinson ist aber zu neugierig und will das Dokument lesen und berührt es. Es stellt sich heraus, dass Voorman zusammen mit seiner Familie 1763 während des großen Sklavenaufstands von afrikanischen Sklaven erschlagen worden war. In dem Dokument verflucht Voorman jeden, der es berührt: Jeder muss seine Flöte hören und seinen Geist sehen, bis ihm ein christliches Begräbnis zuteilwird, zusammen mit seiner geliebten Flöte. Wer das Dokument berührt und ihm diesen Wunsch nicht nach ein paar Tagen erfüllt hat, wird Voorman unweigerlich in den Tod folgen. Voorman gibt auch genaue Anweisungen, wo man seine Leiche und die Flöte finden kann. Dummerweise nur ist das anderthalb Jahrhunderte her und die alten niederländischen Siedlungen sind längst vom Urwald überwuchert, damit sind Voormans Angaben wertlos. Die Zeit drängt aber, denn Nevinson hört die Flöte und sie kommt jeden Tag näher und näher. Bald stellt sich heraus, dass Nell Nevinson zuhause, auf der Suche nach Briefmarken, die Schubladen ihres Vaters durchstöbert hatte und dabei auch das dort aufbewahrte Voorman-Dokument berührt hatte. Auch sie hört die Flöte. Woodsley, als 23-jähriger abenteuerlustiger Heißsporn, berührt das Dokument bei einer sich bietenden Gelegenheit absichtlich, um mit von der Partie zu sein. Auch er hört bald die Flöte. Nur Mrs. Nevinson wird (zunächst) nicht eingeweiht.


    Inzwischen stellt sich heraus, dass Goed de Vries dem Ort am nächsten liegt, wo Nevinson Voormans Überreste vermutet. Als sie in Goed de Vries ankommen, das aus einem Herrenhaus mit Stromgenerator und dem Nevinson gehörenden Sägewerk besteht, kommt Mrs. Nevinson hinter die Sache mit dem Dokument. Inzwischen gehen ihr das Gerede der anderen um die Flötenmusik (die sie nicht hören kann) und die sich langsam anschleichende unheimliche Atmosphäre gehörig auf die Nerven. Sie will das Dokument verbrennen. Als sie es versucht, schlägt ihr etwas das Streichholz aus der Hand, aber keiner der lebenden Bewohner des Hauses. Das Dokument wird dann von Mr. Nevinson anschließend wieder sicher verstaut. Mrs. Nevinson wird daraufhin die kommenden Tage von schweren Albträumen heimgesucht: Sie befindet sich auf einem Pfad, begleitet von der Flötenmusik, und weiß, dass sie am Ende des Pfades auf etwas Schreckliches stoßen wird. Jede Nacht träumt sie, dass sie weiter auf dem Pfad vordringt, aber am Ende eines jeden Traums wird sie von einem Ding am Arm gepackt und ihr wird ins Ohr geflüstert: „Heute nicht weiter!“.


    Und nun beginnt der Horror in Goed de Vries richtig. Woodsley, die Familie Nevinson und Rayburn, der loyale Verwalter von Goed de Vries, müssen sich, vom schweigenden Dschungel umgeben, bald schwerster Angriffe aus einer Welt erwehren, die nicht die ihre ist. Es stellt sich nämlich heraus, dass Voorman sich durch allerhand Beschwörungen mit unsagbar bösen Wesen eingelassen hat, weil er eine neuartige Flöte mit großer Tonbreite erfinden wollte, es aber auf lauterem Weg nicht bewerkstelligen konnte. Und nun ist die Gruppe nicht nur ratlos, was das Auffinden der Überreste Voormans angeht, sondern sie gerät zwischen die Fronten: durch Voorman und seine Flöte, der sein Begräbnis haben möchte und durch die Wesen, die Voorman endgültig in ihr Reich ziehen wollen und alles daran setzen, das Begräbnis zu verhindern und die Gruppe bedrohen. Wer wird den Wettlauf nun gewinnen? Werden es die Nevinsons, Woodsley und Rayburn schaffen, sich aus dieser schlimmen Lage zu befreien?


    Der Roman ist aus meiner Sicht in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens: Er ist unglaublich spannend. Er beginnt verhalten, fast gemächlich, um dann unglaublich an Rasanz zu gewinnen, bis zum Finale. Das wird durch ein weiteres Merkmal unterstützt – die Geschichte wird straff durchgezogen und breitet sich in der deutschen Ausgabe gerade mal über 230 Seiten aus. Zweitens: Eigentlich handelt es sich um eine „traditionelle“ Geistergeschichte. Einerseits aber schafft es Mittelholzer, dem Ganzen neue, originelle Aspekte abzugewinnen, zum anderen hat er sich die Inspiration zum Roman von einem Herrn besorgt, den ihr kennen werdet: Montague Rhodes James. Es ist, als wäre James in Britisch-Guyana gewesen und hätte sein Garn über lästerliche Dokumente und die von diesen ausgehende Verderbnis für den Unbedarften nach Westindien verpflanzt. Im Roman wird James mehrfach erwähnt, Mr. Nevinson hat sogar James‘ Werke auf die Reise mitgenommen, um zu wissen, wie das so ist mit Geistern. Drittens: Die Nevinsons, Woodsley, Rayburn sind alle Kreolen (obwohl Mr. Nevinson ganz weiß ist und eigentlich gar nicht wie ein Kreole aussieht; seine Frau und seine Tochter sind eher „oliv“. Woodsley ist auch Kreole. Rayburn ist fast schwarz und spricht auch nur ein korrumpiertes Englisch. Als die Lage für die Nevinsons und Woodsley in Goed de Vries aussichtslos wird, bitten sie Rayburn, ihnen beizustehen, die Nächte lebend zu überstehen. Dafür muss Rayburn, der ja „nur“ der Verwalter ist, im Herrenhaus schlafen, für Mr. Nevinson und Woodsley in Ordnung, für Mrs. Nevinson jedoch unmöglich: Ein „Schwarzer“ während der Nacht im Herrenhaus? Geht gar nicht (denn sie selber ist ja nicht schwarz, nur oliv). Nevinson und Woodsley sind über Mrs. Nevinson empört und drücken ihre Absicht durch. Später, als die immer verzweifeltere Mrs. Nevinson selber in Bedrängnis gerät, hat sie nicht nur nichts mehr gegen Rayburns nächtliche Anwesenheit einzuwenden, vielmehr tut sie nun fast unterwürfig, damit er sie und ihre Familie ja nicht im Stich lässt. – Mittelholzer schafft es hier mit nur wenigen, fast beiläufigen Sätzen, den Aberwitz einer auf Rasseunfug basierenden kolonialen Gesellschaftshierarchie zu beleuchten.


    Ein Roman, den ich jedem Freund der gepflegten Geistergeschichte wärmstens empfehlen kann! Die deutsche Ausgabe ist antiquarisch für relativ geringes Geld zu haben.


    „Eltonsbrody“ werde ich demnächst mal vorstellen. Diese Horrorstory spielt im Jahre 1958 auf Barbados… .

  • Ui, das klingt mir aber alles sehr reizvoll! Exotisch und schaurig. Vielen Dank für die Vorstellung dieses mir bis dato unbekannten Autors. Ich werde mich nach "Gebein und Flöte" mal umschauen.

  • Ich gestehe, eines der wenigen Bücher, das ich nicht zuende gelesen habe.


    Warum?


    So reizvoll das Thema und auch das Setting klingen, kriegt der Autor nicht richtig die Kurve. Das, was von meinem geschätzten Vorredner als Spannung bezeichnet wird, habe ich als Hinhalten und unnötige Länge empfunden. Ja, der Name M. R. James fällt in der Story und so kann man den Engländer wohl als Reverenz wie auch als Referenz sehen. Aber Mittelholzer ist in seinem Vorgehen zu friedlich, zu bedächtig – die Bösartigkeit und Hinterlist eines M. R. James erreicht er nicht. Selbst das angestrebte Gefühl einer Bedrohung aus einer anderen Welt, stellte sich nicht bei mir ein. Gelesen habe ich etwas bis zu der Stelle, an der die Inhaltsangabe abbricht – doch da war ich schon so wenig erpicht, hinter des Rätsels Lösung zu kommen, dass ich aufgab, – was mich als Leser gewiss auch nicht in einem guten Licht dastehen lässt, ich bestreite es nicht!


    Ich fühle mich zudem in meiner Theorie bestätigt: der Roman an sich ist nicht das formale Territorium fürs Unheimliche. Namentlich nicht in diesem Fall, wo aus der zugrunde liegenden Idee eine hübsche, exotische (freilich zahme) Geistergeschichte hätte werden können. Die ganze Familiensituation sowie die Liebelei zwischen den jungen Leuten – der typische Ballast, welcher der unheimlichen Phantastik einmal mehr das Wasser abgräbt … und so ist der interessanteste Aspekt des Buches vielleicht wirklich, dass es

    Mittelholzer schafft hier mit nur wenigen, fast beiläufigen Sätzen, den Aberwitz einer auf Rasseunfug basierenden kolonialen Gesellschaftshierarchie zu beleuchten.

  • Hallo Axel, danke für Deine gegensätzliche Perspektive. Ich hatte ja schon geschrieben, dass der Roman gemächlich beginnt (aus meiner Sicht aber keineswegs langweilig). Mittelholzer dreht die Geschwindigkeit immer nur ein Stückchen auf, erreicht aber im letzten Drittel des Romans eine imposante Geschwindigkeit: Richtig ab gehts erst im letzten Drittel des Romans. Die Liebesgeschichte zwischen Woodsley und Nell Nevinson kommt eher beiläufig daher und spielt, denke ich, nur eine Nebenrolle. Zudem legt Mittelholzer Wert darauf, die natürliche Umgebung, besonders den Urwald, als Teil der Bedrohung in die Geschichte einzubeziehen. Man muss sich natürlich drauf einlassen (können) und die Geduld mitbringen, die ein 230-seitiger Roman nun mal erfordert. Mittelholzers Romane - und hier wäre es unfair, ihn mit James zu vergleichen - haben nicht nur die Aufgabe, Leser zu erschrecken, sondern seine karibische Heimat als einen Ort darzustellen, der auf der einen Seite faszinierend und schön ist, an dem andererseits auch viel Böses (Sklaverei, Kolonialismus) geschehen ist, dessen Wirkmacht bis in die heutige Zeit reicht. Dies geschieht aber bei Mittelholzer eher beiläufig.

  • Ich bin gerne bereit, auch die Tugenden eines Buches zu loben. Und ja, The Bunyip , du hast Recht: die Schilderung des Urwalds hat mir gefallen. Ich kann mir denken, dass sich das Bild über diesen Autor und seine Themen rundet, wenn man mehr von ihm liest.


    Tja, was den James betrifft: das Fass macht ja Mittelholzer selbst ein bisschen auf. Und da habe ich dann halt einen Maßstab angelegt.


    Eine sehr subjektive Kritik ist, dass ich mehr von der Lektüre erwartet hatte (eine Position, die sich schlecht objektiv begründen lässt). Deshalb habe ich damals (letztes Jahr) das Buch zur Seite gelegt. Ich bin wirklich weit davon zu sagen, es sei schlecht. Und weiß Gott, ich habe bestimmt schon literarisch mittelmäßigere Bücher ausgelesen – aber wohl auch, weil sie in irgendeine Richtung polarisiert haben. Dieses Faszinosum fehlte mir beim Mittelholzer …


    Wie auch immer: Die Präsentation des Buchs habe ich sehr gerne gelesen, bitte mehr davon!

  • Hallo Axel,

    ich habe für Deine Kritik zu danken. Es ist ja schließlich normal, dass jeder seine eigene Meinung über einen Text entwickelt. Deshalb finde ich es auch immer faszinierend, welche vielfältigen Sichtweisen für ein und denselben Text existieren und welche Diskussionen daraufhin entstehen, die wiederum meinen Horizont erweitern.

    Ich werde demnächst mal Mittelholzers "Eltonsbrody" vorstellen, eine Horrorstory, in der sich garantiert nichts von James findet... .

  • Vielen Dank für die detaillierte, äußerst spannende Vorstellung. Eltonsbrody habe ich mir daraufhin auch heruntergeladen und bin gespannt.


    Diskussionen bzw. konotroverse Standpunkte und Facetten wie diese empfinde ich auch als unbedingte Bereicherung, und machen mich auf jeden Fall doppelt neugierig auf die Werke.

  • Tolle Vorstellung! Macht Lust, sich das Buch endlich mal vorzunehmen.



    Etwas off topic...

    Fischers Bibliothek der phantastischen Abenteuer würde sicher mehr Beachtung verdienen. Die ist nicht nur optisch eine Augenweide, sondern bietet inhaltlich eine breite Palette der Fantasy bis hin zur unheimlichen Phantastik. Peter Hainings Damen des Bösen ist eine vorzügliche Sammlung klassischer Gespenstergeschichten weiblicher Hand.