Reckermann und Andara - Lieber Herr Mordio

  • Es ist für mich immer wieder etwas Besonderes einen Nighttrain-Band in den Händen zu halten. Inzwischen habe ich „Lieber Herr Mordio“ aber leider auch schon wieder beendet.


    Meine Meinung:

    In diesem Briefroman korrespondiert Erik R. Andara mit einem gewissen Herrn Mordio, der aber auch ein Mann namens Dashiell sein könnte, oder (vollkommen unwahrscheinlicher) in Wahrheit eigentlich Tobias Reckermann ist. Ursprünglich schreibt Andara ihn an, weil er sein Manuskript in dessen Verlag veröffentlichen will, daraus entspinnt sich jedoch schnell ein Gespräch über Gott und die Welt - Eine Welt, die zwar aus einem surrealen Alptraum zu stammen scheint und in der beide Autoren permanent um ihr Leben fürchten müssen, die dabei aber auch gar nicht so weit von unserer Wirklichkeit entfernt ist.

    „Inlands wird jetzt wieder in Köpfe geschossen, Köpfe von Migranten (…) Sie erfinden alle Wahrheiten neu und so werden Migranten zu Volksschädlingen (…) Das Generationenschiff der Menschen steuert auf einen Eisberg zu.“

    Und schließlich passiert, was in einer Alptraum-Realität eben nun mal passiert: Ein Kasper kommt an die Macht und ruft eine faschistische Diktatur aus, die sich primär gegen Künstler richtet. Andara und Mordio sagen ihm den Kampf an:

    „Kasper, der zornige Clown wird auferstehen, wenn wir die Leute nicht warnen. Wir sind Chronisten, es ist unsere Aufgabe, das zu tun! Denn wenn Kasper erst einmal in den zerbrochenen Tempeln thront, schwinden unsere Hoffnungen zusehends.“

    Falls das bis jetzt noch nicht klar geworden sein sollte: Wir haben es hier mit politischer Weird-Fiction zu tun, bzw. mit einem Werk, das versucht den momentanen Wahnsinn in unserer Welt mit der Sprache der Weird-Fiction abzubilden. Gleichzeitig ist es aber auch eine Liebeserklärung an das Genre. Dabei allerdings hochgradig ungeeignet für Leser, „die in fantastischer Literatur nur Zerstreuung suchen.“ Denn „Lieber Herr Mordio“ tut weh und bringt dabei diverse Synapsen zum brutzeln.

    Parallel zum Hauptplot (zumindest habe ich den Mordio-Part als solchen wahrgenommen) erzählt Erik R. Andara noch eine Art Liebesgeschichte, die für mich jedoch nicht so richtig ins Bild gepasst hat. An einer Stelle sagt er sogar selbst: „…es gibt so viel Wichtigeres, und ich sitze hier und schreibe von meinem Erlebnissen mit einer einzelnen Frau, die nichts, aber auch gar nichts mit den größeren Zusammenhängen zu tun haben.“

    Aber irgendwie geht es in „Lieber Herr Mordio“ ja auch um Chaos, Krach, den absoluten Informations-Overkill… Eine kohärente Erzählung wäre daher also wahrscheinlich eher kontraproduktiv gewesen. Dennoch nimmt diese Herangehensweise dem Buch mMn etwas von seiner Sprengkraft.

    Man sollte den Briefroman aber vielleicht auch einfach als eine Art Bewusstseinsstrom begreifen. Nur eben in Form eines Dialogs statt eines Monologs.

    Eine Klimax darf man dementsprechend ebenfalls nicht erwarten…Es gibt in dieser Erzählung kein Ende, bzw. es wird (schließlich haben wir es hier ja mit zwei Schriftstellern zu tun) einfach eins erfunden: „Als der Vorhang des kleinen Theaters fiel, erwachten die weinenden Kinder aus dem Alptraum vergangener Stunden.“ Und mit ihnen erwacht der Leser - Und findet sich sogleich im nächsten Alptraum gefangen.

    „Lieber Herr Mordio“ ist sicher nicht frei von Schwächen, aber gerade in den Textpassagen, bei denen die Grenze zwischen realem und fiktionalem Horror kaum noch vorhanden zu sein scheint, erlangt die Geschichte eine enorme Wirkung. Davon sollte es wesentlich mehr geben.

  • Shadowman

    Hat den Titel des Themas von „Vorankündigung: Reckermann und Andara - Lieber Herr Mordio“ zu „Reckermann und Andara - Lieber Herr Mordio“ geändert.
  • Schön, dass Du das Buch im Großen und Ganzen mochtest.

    Und was diese vermaledeite Liebesgeschichte betrifft, was soll ich sagen: Ich konnte einfach nicht anders ;)

    (Wobei die wahre Liebesgeschichten darin ja der Minotaurus ist)

  • danke Cheddar für diese erste rückmeldung! Mit einer "enormen wirkung" und "brutzelnden synapsen" sind wir doch mehr als zufrieden :) und mich freut besonders wenn der politische aspekt so gut aufgenommen wird.


    Danke auch an shadowman für den titel!