Henry Chapman Mercer

  • Henry Chapman Mercer (1856-1930) war ein Multitalent: Sammler alles Möglichen, Archäologe, Historiker, Designer und Produzent kunstvoller Fliesen, Museumsgründer. Er spielte Geige, interessierte sich für irische Musik und bezeichnete sich als deren großer Kenner, schrieb Gedichte, malte, stellte Radierungen her… . Sein schlossartiges Haus „Fonthill“ (heute das „Mercer Fonthill Museum“) in Doylestown, Pennsylvania, bestehend aus drei Gebäuden, entwarf und erbaute er innerhalb von acht Jahren selbst! Den Wunsch, als Prosaschriftsteller zu arbeiten, erfüllte er sich erst in den letzten Lebensjahren (wahrscheinlich einfach deshalb, weil es in seiner To-Do-Liste mit der Zeit automatisch ganz nach oben gerutscht war).


    Er brachte es auf sieben Kurzgeschichten, alle der unheimlichen Phantastik zuzurechnen. Sechs davon publizierte Mercer 1928 in dem Sammelband „November Night Tales“: „Castle Valley“, „The North Ferry Bridge“, „The Blackbirds”, “The Wolf Book”, “The Doll’s Castle”, “The Sunken City”. Die siebte Geschichte, “The Well of Monte Corbo”, erschien posthum. Der Band „November Night Tales – Stories oft the Supernatural“, der mir vorliegt, vereinigt alle sieben Geschichten und erschien 2015 bei Valancourt.


    „Castle Valley“: Meredith befreundet sich mit dem jungen Maler Pryor. Der malt ein Bild einer Landschaft nahe der Stadt Highborough namens „Castle Valley“. Auf seinem Gemälde erscheint aber nicht nur die Landschaft, sondern auch ein Schloss auf einem Hügelkamm, das es dort aber nicht gibt. Es stellt sich heraus, dass dort tatsächlich einmal ein Schloss war, der Maler aber gar nichts davon wusste. Tage später zeigt er Meredith einen kleinen Block aus durchsichtigem Quarz, den er auf seinen Streifzügen um Castle Hill gefunden hat. Pryor behauptet, in dem Quarz Dinge zu sehen, die mit Castle Hill in Verbindung stehen. Meredith glaubt ihm nicht, sieht auch nichts, aber bald entfaltet der Quarzstein seine unheilige Wirkung auf Pryor.


    „The North Ferry Bridge“: Die Geschichte wird aus der Sicht eines Landarztes geschildert, der in dem Küstenstädtchen Bridgenorth lebt wie auch sein Onkel, ein bekannter Richter. Der hatte einmal einen Wissenschaftler, einen Seuchenexperten, zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, weil dieser so überhaupt nicht verantwortungsvoll mit seinem Wissen umgegangen war, sondern große Gefahr über Bridgenorth heraufbeschworen hatte. Eines Tages bricht der Ex-Wissenschaftler aus dem Gefängnis aus. Der Onkel des Landarztes verschwindet daraufhin plötzlich auf geheimnisvolle Weise, alles Teil eines größeren Racheplans des Ex-Wissenschaftlers. Der Landarzt stolpert allerdings über die Vorbereitungen für diese Rache an Bridgenorth. Die Geschichte mündet in einem krachenden Finale: Zufälliger Held meets biological warfare.


    „The Blackbirds“: Charles Carrington (dem wir in „The Doll’s Castle“ wiederbegegnen) liebt es, durch die Umgebung seines Heimatortes Eastport zu streifen. Einmal begleiten ihn seine Freunde Norton und Pryor (eben jener Pryor aus „Castle Valley“). Sie geraten auf ihren Streifzügen in eine Wildnis und plötzlich verschwindet Pryor. Man befürchtet das Schlimmste. Es wird eine Suche eingeleitet, die Polizei schaltet sich ein, bald werden Carrington und Norton beschuldigt, am Verschwinden von Pryor beteiligt zu sein. Aber der Fall scheint eher mit indischen Gastarbeitern zu tun zu haben, die beim Eisenbahnbau helfen. Diese gehören zur Glaubensgemeinschaft der Parsen, die ihre Toten durch Aasvögel in die nächste Welt schaffen lassen. Und tatsächlich kreisen über dem Suchgebiet verdächtig viele Vögel.


    „The Wolf Book“: Professor C_, Spezialist für klösterliche Handschriften im slawischen Teil des damaligen Kaiserreichs Österreich-Ungarn, ist auf Forschungsreise im Karpatengebiet und erwirbt in einem Kloster eine Buchrolle – ohne zu wissen – was er da genau hat. Als er die Rolle öffnet, geht ihm auf, dass es sich um eine antike Kostbarkeit handelt. Offensichtlich hat es etwas mit den Werwölfen zu tun, die in der Gegend kleine Kinder rauben. Und bald sind ihm Werwölfe auf den Fersen, die das Buch unbedingt in ihren Besitz bringen wollen. Der Professor wird gejagt, beraubt, bedroht, aber er findet auch immer wieder Verbündete (darunter einen österreichischen General), die ihm helfen, seinen Besitz zurückzuerhalten. Immer wieder kann er den Werwölfen entkommen. Schließlich aber kommt es zum Showdown.


    „The Doll’s Castle“: In Eastport gibt es ein Spukhaus in der Belbridge Street. Das Haus soll voller Puppen sein. Mit den Puppen hat es seine besondere Bewandnis. Die Freunde Carrington und Westbrook wollen es erkunden. Nach mehreren Anläufen erhalten sie den Schlüssel vom Makler. Westbrook nimmt Frau und Sohn mit auf die bei Tageslicht stattfindende Erkundung. Die beiden warten aber im Hof vor dem Haus, während die Männer ins Haus vorstoßen. Westbrook achtet nicht mehr auf seine Familie – und erfährt daraufhin auf grausame Weise, was es mit dem Haus auf sich hat.


    The Sunken City: Die Geschichte spielt in Ragusa (heute Dubrovnik). Der Erzähler erlebt dort ein heftiges Erdbeben, das Teile der vor der Küste versunkenen antiken Stadt Epidaurus zutage fördert. Es kommt allerdings mehr zum Vorschein, als für die Protagonisten der Geschichte gut ist.


    The Well of Monte Corbo: Zeichnungen von Dürer und Tizian führen den Erzähler zum Brunnen von Monte Corbo nach Italien. Dort sollen die Freunde Dürer und Tizian einstmals, auf der Flucht vor Räubern, einen bestimmten wertvollen Gegenstand in den Brunnen geworfen haben. Der Erzähler findet – nach ausgiebigen Recherchen – das Objekt, einen Gegenstand aus vorchristlicher Zeit. Allerdings stehlen ihm seine beiden einheimischen Helfer den Fund. Das bekommt ihnen jedoch gar nicht.



    Alle sieben Geschichten spielen wohl in den 1880er Jahren, teilweise in den USA, teilweise auf dem Balkan – Mercer war (natürlich) auch weit gereist. Nicht alle Geschichten sind in erster Linie übernatürlich (North Ferry Bridge, The Blackbirds). Das Unheimliche, weniger das Übernatürliche, nähert sich hier eher durch die Hintertür, dafür aber umso effektvoller. Daneben gibt es Geschichten, in denen das Übernatürliche angedeutet wird oder wie ein kurzer Blitz in die Geschichte fährt (Sunken City, Well of Monte Corbo). Reine Spukgeschichten sind „Castle Valley“, „The Doll’s Castle“ sowie „The Wolf Book“. Die Geistererscheinungen werden auch hier sehr sparsam, dafür absolut effektvoll eingesetzt.


    Für alle Geschichten Mercers ist charakteristisch, dass zunächst eine eigentümliche, fast mystische Atmosphäre herrscht. Allein schon das Setting (Orte, Personen, Interaktionen) hinterlässt beim Leser einen eigentümlichen Eindruck und unterstützt den Eindruck des Unheimlichen und Stillen, der dann aber abgelöst wird vom Einbruch des Übernatürlichen und Unheimlichen, häufig auch von einem geradezu rabiaten Finale. Insgesamt habe ich die Lektüre sehr genossen. Mercer (der in keiner einschlägigen Enzyklopädie erwähnt wird) schrieb unheimliche Geschichten, die zu den besten gehören, die ich bisher gelesen habe – schade, dass er literarisch erst so spät die Kurve gekriegt hat. Hätte gerne mehr von ihm gelesen... .

  • Hallo Spooky,

    mir ist keine deutsche Übersetzung bekannt. Vielleicht weiß jemand sonst etwas darüber?

    Wie auf der Valancourt-Seite angegeben wird, ist die Ausgabe von 2015 der erste Nachdruck seit 1928. Die Ausgabe von 1928 ist seit geraumer Zeit kaum erhältlich. Mercers Geschichten waren somit wohl selbst im anglophonen Raum eher unbekannt.