Andrei Platonow: Die Baugrube


  • Andrei Platonov

    Die Baugrube. Berlin 1971 und neu übersetzt 2016/2019, alle Suhrkamp TB, 238 S. Leseprobe und Hintergrundinfos auf der Suhrkamp-Homepage.

    The Foundation Pit. NY 2009. New York Review Book Classics, 208 S. Reviews und Infos auf der Verlagsseite.


    Ich habe die englische Ausgabe gelesen, die – obwohl sie sinngemäß das Gleiche ausdrückt – mir wesentlich besser gefällt: sie wirkt stark reduziert, harsch, während das Deutsche zumindest in der Neuübersetzung adjektivlastiger und teils unangemessen niedlich klingt. Beide sind erstaunlich ähnlich aufgemacht und zu einem günstigen Neupreis zu haben.


    Aufmerksam geworden war ich vor Jahren durch eines der exzellenten, sehr spannenden Onlineinterviews mit Dmitri Gluchowski, in dem er angab, dass er Metro 2033 unter dem Einfluss v.a. dieser pessimistischen Dystopie geschrieben habe.

    Platonov (1899-1951) verfasste das Werk bereits 1930, es konnte wegen der Zensur aber erst 1987 (!) im Original veröffentlicht werden.


    Plot: Irgendwo im russischen Niemandsland wird eine Baugrube ausgehoben, um ein bisher unübertroffen großes Wohnhaus für ‚die neuen Menschen‘ – die erste Generation Sowjetbürger – zu errichten. Es fehlt an Koordination, Material und Arbeitskräften, die Arbeiter selbst sind der unmöglichen Aufgabe nicht gewachsen: es ist eine Gruppe u.a. Versehrter, Altersschwacher und Alkoholkranker, die jede Perspektive verloren haben, teils auch die Möglichkeit zur Interaktion, Kommunikation, und die durch die Lebensumstände verroht sind. Ganz gleich, wie sehr sie schuften, kommen sie dem Ziel kein Stück näher. In diese von Gewalt gezeichnete Welt kommt ein Kind (wie es erst aussieht, eine Waise) und die Arbeiter nehmen sich ihrer an. Dabei finden sie einen Teil ihrer Empathie, ihres Verantwortungs-, und auch Selbstwertgefühls wieder. Das kleine Mädchen ist jedoch alles andere als niedlich, es urteilt gefühlskalt und brutal gemäß der erlernten Sowjetparolen und vermittelt den Arbeitern, dass sie ohne eine fehlerlos gelebte kommunistische Ideologie wertlos sind. Ebenso zeigt sie eine unkindliche Hassliebe zu ihrer tatsächlich noch lebenden bourgeoisen Mutter, die später zu der Gruppe stoßen wird. Es ist klar, dass die Baugrube ebenso wenig fertiggestellt werden wie die Menschen umerzogen werden können, und die Erzählung endet in einer Tragödie.


    Wenn ich Eva Hornungs exzellenten Dog Boy ausnehme, ist dies der mit sehr weitem Abstand düsterste und deprimierendste Roman, den ich je gelesen habe, ein echter wrist-slitter. Durch die absurde Ausgangslage und die expressionistisch, teils surrealistisch anmutende Erzählweise liest sich diese ultra-pessimistische Dystopie wie reine Phantastik. Dabei hat Die Baugrube aber genau wie die Troika der Brüder Strugatzki einen doppelten Boden: während die Strugatzkis in ihrer absurden SciFi-Novelle eigentlich von stalinistischen Schauprozessen erzählen, behandelt Platonov die seit dem 19. Jahrhundert existierenden Straflager, die später unter Stalin als GULAG berüchtigt wurden, und in denen geschätzte 30 Millionen Menschen Strafarbeit verrichteten – Stalins Version des „Tod durch Arbeit“. Nach aller-konservativsten Schätzungen starben in den als Umerziehungsstätten kaschierten Lagern zw. 1930-1953 knapp 2 Millionen Menschen, kritische russische Historiker gehen von mind. 10% aller Häftlinge aus.


    Die Baugrube nimmt damit auf absolut exakte und äußerst gruselige Weise Stalins absurde Konstruktionen wie v.a. die Salekhard-Igarka-Eisenbahnlinie (Die „Straße des Todes“) und den Weißmeer-Osteseekanal vorweg. Die kurz „Weißer Kanal“ genannte Schifffahrtstraße heißt so, weil sie wie die Schienen wortwörtlich auf Knochen gebaut wurde: an Erschöpfung gestorbene Arbeiter schaufelte man einfach in die ausgehobenen Fundamente. Der Kanal erwies sich direkt nach dem Bau als zu flach und wurde nie wie geplant genutzt; die Eisenbahnlinie führte über sumpfiges Terrain tatsächlich ins Nichts (phantastisch auch der heutige Zustand, Zugmaschinen und Waggons mitten im Wald – online zu finden unter „Stalin’s Railway / Stalin’s Trains“ und sehr zu empfehlen für Liebhaber des Abandoned …).


    Auch die Figur des Mädchens nimmt spätere Entwicklungen vorweg, als Kinder – vor allem von Bauern und vormaligen Gutsbesitzern – in den Schulen indoktriniert wurden, ihre eigenen Eltern auszuspionieren und nötigenfalls zu verraten. Dies führte tatsächlich zu unzähligen Inhaftierungen und Hinrichtungen.


    Platonovs Roman ist damit eine wahrgewordene Dystopie, die noch viel zu unbekannt ist und der ein absolut gleichberechtigter Platz neben 1984, Animal Farm und Brave New World gebührt.


  • Felix Sehr gern geschehen - 'viel Spaß' kann ich da natürlich nicht wünschen, aber eine widerständig-bereichernde Leseerfahrung ist es auf jeden Fall. Jetzt nach ein paar Jahren erwäge ich sogar, es ein zweites Mal zu lesen, obwohl ich das Buch direkt nach dem Lesen fast ins Antiquariat gegeben hätte, so unangenehm ist die Atmosphäre darin. Wirklich genial gemacht.

  • Danke für die Vorstellung, klingt sehr reizvoll. Über Platonow habe ich mal vor einigen Jahren etwas im Radio gehört, dort wurde er als früher Kritiker ökologischen Raubbaus gepriesen.

  • Um zwei Ecken dank Nils Radio-Hinweis gestern entdeckt: Ein sehr spannendes, persönliches und aufschlussreiches Interview mit Platonows englischem Übersetzer, Robert Chandler. Dieser ist so begeistert von der Baugrube, dass er den Roman zwei Mal übersetzte (einmal mit mehr Zeit & Rescourcen - das nenne ich Leidenschaft!).


    Daraus geht auch hervor, dass Platonow eng mit Vasily Grossman befreundet war, dessen furchtbar-wunderschönes Buch A Writer at War: Vasily Grossman with the Red Army 1941-1945 (transl. Vinogradova / Beevor) mich mit einer unendlichen Bewunderung für das journalistische Werk des Autors zurückgelassen hat, und das seitdem zu meinen Lieblingsbüchern zählt.

  • Susanne Herzlichen Dank für den Artikel, den ich beim Hören der wdr-Sendung gelesen habe, und der einen ähnlichen Tonfall anschlägt. Ich frage mich gerade, ob das Zufall ist, oder ob sich die deutsche Platonow-Rezeption so extrem von der internationalen unterscheidet.


    Zitat

    SZ: "Die glückliche Moskwa", wenige Jahre nach "Dshan" abgeschlossen, erzählt von einer Waise, die sich in Ermangelung eines Namens nach der Stadt Moskau benennt, von der Hoffnung auf den Sozialismus beseelt ist, als Fallschirmspringerin ausgebildet wird, bei der Arbeit an der Moskauer Metro ein Bein verliert, verschiedene Männer liebt und schließlich erkennt, dass sie sich nicht binden kann, weil die Liebe zu einem Einzelnen mit der Liebe zum Sozialismus, also: zu allen Menschen, nicht in Einklang zu bringen ist.

    Oh, wie spannend. Das genau ist nämlich die Figurenkonzeption des Kindes in der Baugrube. Dort allerdings zynisch gezeichnet, offenbart die menschenverachtende Ideologie in all ihrer Tragik.


    Zitat

    SZ: Vier verzweifelte Briefe an Maxim Gorki zeigen sein Bemühen, sich immerhin als Schriftsteller zu behaupten.

    Da hat Gorki ja mal etwas Gutes getan. Ansonsten ist dies selbstverständlich eine unglaublich bittere Ironie, denn die Baugrube nimmt Stalins Version des 'Tod durch Arbeit' 1:1 vorweg, während Gorki die Propaganda für den Weißmeer-Ostsee-Kanal leitete und sich immer wieder gern in GULAGs einladen ließ, um über den Nutzen solcher Zwangsarbeit zu schreiben. Offenbar nicht unter Zwang, sondern aus Überzeugung.