George MacDonald: Lilith
Broschur im Schuber, 347 Seiten. Übersetzung: Uwe Herms
Hobbit Presse/Klett-Cotta. Stuttgart 1979 (11. – 20. Tausend)
Lovecraft empfiehlt
Während der Lektüre von Lovecrafts Geschichte „Das Grauen in Red Hook“ stieß ich auf den Namen Lilith – wenn man so will, die oberste Bösewichtin der Story. Dabei fiel mir der gleichnamige Roman von George MacDonal wieder ein: viktorianische Proto-Fantasy (erschienen 1895), die ich beim Anlesen vor rund 15 Jahren in guter Erinnerung behalten hatte. Nun habe ich das Buch endlich ausgelesen, mir Notizen und Gedanken gemacht.
Es spukt in der Bibliothek
Behandelt werden die Erlebnisse eines Mr. Vane, der sich nach längerer Abwesenheit im elterlichen Haus niederlässt. Prunkstück des Anwesens ist eine seit mehreren Generationen aufgebaute Bibliothek. Daselbst – so die Familienlegende – geht der Geist eines Bibliothekars um. Letzterer lässt nicht lange auf sich warten. Mr. Raven ist indes kein Schreckgespenst, sondern für Vane eine interessante und herausfordernde Bekanntschaft. Denn er vermittelt unserem Protagonisten Zugang zu einer Parallelwelt, in der dieser mehr und mehr heimisch wird.
Draculas weibliches Pendant?
Vane findet in dieser Welt nichts weniger als eine Lebensaufgabe, verbunden mit der Möglichkeit der Selbstfindung. Die Aufgabe besteht vordergründig darin, die Stadt Bulika von ihrer grausamen Regentin, der Prinzessin, zu befreien. Diese aber ist niemand anderes als die von Mythen umrankte Lilith – die erste Frau Adams, eine von Gott abgefallene Widersacherin. Eine Prophezeiung verkündete ihr einst den Untergang durch ein Kind. Entsprechend tötet Lilith alle Kinder, die ihr – man darf es so buchstäblich sagen – zwischen die Fänge geraten. Flankiert wird dieser Hauptstrang (ein Beitrag zum Vampirroman, zwei Jahre vor „Dracula“!) von allerlei gespenstischen und grotesken Szenen, an denen Vane nach und nach reift.
Biblische Grundlage
Was hat es nun mit diesem Reifeprozess und der Selbstfindung auf sich? Letztendlich nähren alle Abenteuer, die Vane durchläuft, seinen Glauben an die Vorsehung. Bei einem Blick auf die Biografie des Autors verwundert das nicht. George MacDonald war eben nicht nur ein Verfasser von „Fantasy-Literatur“, sondern ein Pfarrer, der die universelle Liebe Gottes predigte. Mann kann das Buch wahlweise als fantastischen Schmöker lesen – oder als fantasievollen Kommentar zur christlichen Heilslehre. Jedenfalls stehen Themen wie Leidensfähigkeit, Sterblichkeit, Erlösung und Wiedergeburt im Zentrum. Das Personal der Story rekrutiert sich wesentlich aus biblischen Gestalten.
Fazit
„Lilith“ nimmt etwas schwergängig Fahrt auf. In der ersten Buchhälfte reihen sich die absonderlichen Episoden aneinander, was launenhaft und ziellos wirkt. Ab der zweiten Hälfte klären sich die Verhältnisse. Die szenischen Bereiche sind abgesteckt, die Figuren eingeführt und bekannt. Auch die namensgebende Lilith tritt nun scharf konturiert hervor. Sie, die schon todgeweiht war, wurde von Vane naiverweise ins Leben zurückgeholt. Nun gilt es, ihre Herrschaft zu beenden und sie zu läutern.
Das Buch mag ein religiöses Sendungsbewusstsein haben. Überlagert oder stört das die Lektüre? Ich finde nicht. MacDonald brilliert als Erzähler und Schöpfer einer fremdartigen, durchaus bedrohlich erscheinenden Welt. Mithin gelingen ihm die gespenstischen Szenen am wirkungsvollsten. Um aber auf Lovecraft zurückzukommen: der besaß das Buch selbst und hat sich kurz aber löblich dazu geäußert. Phantastik-Herz, was willst du mehr?
4 von 5 Daumen