Ich möchte hier das Werk eines Autors vorstellen, der vielleicht nicht so bekannt ist. Habe es gerade zuende gelesen: “Die Tür des Unwirklichen“ (Original: „The Door of the Unreal“, 1919) von Gerald Biss. Die deutsche Übersetzung erschien 2018 in der Klassiker-Bibliothek der Edition Phantasia.
Gerald Biss (1876–1922) war ein britischer Autor von Kriminalgeschichten. „Die Tür des Unwirklichen“ ist wohl sein einziger Ausflug ins Phantastische. Die Geschichte wird in Form eines trotz der übernatürlichen Ereignisse nüchternen Berichts erzählt. Verfasst wurde dieser Bericht vom Ich-Erzähler Lincoln Osgood, unter Zuhilfenahme von Beiträgen anderer Augenzeugen. Osgood ist ein amerikanischer Lebemann und Reisender, der eigentlich nur seinen Freund Burgess Clymping, einen englischen Landadligen, besuchen will. Der lebt in West-Sussex, in der Nähe der Landstraße nach Brighton. Nacheinander verschwinden zwei Paare, die auf dieser Straße nachts im Auto unterwegs sind, zunächst spurlos. Einige Blutspuren in den Autos lassen Schlimmes vermuten. Polizei und Anwohner, darunter Clymping, stehen vor einem Rätsel. Später wird durch Zufall auf dem Anwesen von Clymping ein Überlebender gefunden, übel zerrupft und gerade noch so am Leben. Wer oder was die beiden Paare angegriffen und verschleppt hat, wird dem Leser allerdings schon vor Beginn der Geschichte klar. Denn auf dem Backcover erscheint das wohlwollende Urteil Lovecrafts über dieses Buch: „Die Tür des Unwirklichen behandelt recht geschickt den verbreiteten Werwolf-Aberglauben.“ Das wissen die Beteiligten an der Geschichte natürlich nicht. Beteiligt sind: Clymping, seine Familie, Angestellten und Nachbarn (sind nicht dazu fähig, über ihre geistigen Grenzen hinauszudenken), die Polizei (die lokale Polizei, gut genug, Strafzettel wegen Raserei mit den hochgezüchteten Autos, die Landadelige so zu Verfügung haben, zu verteilen, Polizisten von Scotland Yard, auch nicht gerade strotzend vor Intellektualität) sowie besagter Osgood, der, als erfahrener Reisender auch in Balkanländern, das „Tatmuster“ relativ schnell einem Werwolf zuordnen kann. Osgood nimmt das Heft in die Hand und trifft Vorkehrungen, den Werwolf zu jagen und zu erlegen. Es ist auch schnell klar, wer der Täter ist, d.h., wer sich da in der Gegend in einen Werwolf verwandelt. Der Hauptteil des Berichts handelt von den vielschichtigen Vorbereitungen (vor allem Osgoods), den Werwolf zur Strecke zu bringen und vom eigentlichen Showdown, als Osgood, seine Freunde und die Polizei dem Werwolf (es sind am Ende sogar zwei) entgegentreten.
Eigentlich spoilert Biss seine Story ständig. Das mit dem Werwolf wird relativ schnell klar. Wer es ist, ebenso (denn der Hauptverdächtige trägt einen Namen, der ihn eindeutig mit Wölfen in Verbindung bringt). Osgood marschiert zudem wie ein Anti-Werwolf-Kara ben Nemsi durch die Geschehnisse. Die anderen tun, was er sagt. Trotzdem, erstaunlicherweise funktioniert die Geschichte: Biss/Osgood schildern die übernatürlichen Ereignisse nüchtern wie einen Polizeibericht und dieser Kontrast ist faszinierend. Spannend bleibt es auch deshalb, weil man nicht weiß, wer von den Jägern am Ende heil aus der Nummer herauskommt und wie der Showdown eigentlich ablaufen wird. Die Geschichte ist straff durcherzählt. Die Charaktere der Werwolf-Jäger und ihrer Familien sind plastisch herausgearbeitet.
Ich hatte mir das Buch seinerzeit zugelegt, weil mich die Werwolf-Thematik allgemein interessiert. Ob man jetzt 49.- Euro dafür ausgeben muss (es ist eine limitierte und nummerierte Ausgabe), mag einmal dahingestellt bleiben.