Tobias Reckermann: Gotheim an der Ur

    • Offizieller Beitrag

    Mein Buch für die Kategorie "Im Original deutschsprachiges Buch" erweist sich bei genauerem Hinsehen als Kurzgeschichtensammlung bzw. als Sammlung von 4 Kurzgeschichten und einer Novelle. Das Kriterium sollte dennoch erfüllt sein, es war ja nicht unbedingt ein Roman verlangt.


    Wie der Titel der Sammlung schon besagt, geht es v. a. um die namengebende Stadt Gotheim am Fluss Ur. Der Titel bezeichnet dann auch im wesentlichen den Inhalt: Die Stadt wird von verschiedenen Blickwinkeln aus in ihren unterschiedlichen Facetten beschrieben. Dabei wird die Stadt tatsächlich vor allem beschrieben, vor allem die Atmosphäre, die dort herrscht und zahlreiche Ereignisse/Begebenheiten, die in dieser Stadt auftreten. Die eigentliche Handlung der einzelnen Erzählungen tritt im Vergleich zu dem Stimmungsbild, das so erzeugt wird, eher in den Hintergrund. Dies macht es mir auch irgendwie sehr schwer, zum Ablauf der Erzählungen eine größere Menge Details aufzuführen.


    Die innere Finsternis

    Hier wird die Stadt aus der Sicht eines Verwaltungsbeamten eines Stahlwerks beschrieben. Die Schwerindustrie ist seit Beginn der Industrialisierung einer der prägenden Faktoren der Stadt, befindet sich in der Gegenwart aber bereits seit einer Weile im Niedergang. Auch dieser Niedergang ist prägend für die Stadt insgesamt. So beendet der Protagonist sein Berufsleben zwar mit einem regulären Ruhestand, muss aber als eine seiner letzten Amtshandlungen noch an einer Massenentlassung mitwirken. Insgesamt ist der Niedergang letztlich zu unerträglich für den Protagonisten, so dass er sich entscheidet, die Stadt zu verlassen.


    Vorsicht auf der letzten Stufe

    Der Protagonist dieser Erzählung hat bereits seit seiner Kindheit psychische Probleme. Obwohl er davon bereits frühzeitig geheilt werden konnte und es zu beruflichem Erfolg brachte (Direktor eines Stahlwerkes), drückt wohl die Atmosphäre der Stadt später wieder derartig auf die Psyche, dass er rückfällig wird. Da er wohl auch kein soziales Netz aufbaute, führt dies zu seinem Niedergang. Ein möglicher Aspekt bei dieser Geschichte ist allerdings auch, dass nicht nur die Atmosphäre der Stadt die Leute beeinflusst, sondern auf der anderen Seite auch psychisch auffällige Personen die Atmosphäre der Stadt.


    Die schwarze Zitadelle

    In dieser Geschichte geht es in erster Linie um eine Expedition zu Kolonialzeiten, die von Gotheim aus startet. Über diese kommen dunkle Einflüsse von außen in die Stadt, die nicht richtig verstanden werden. Zusätzlich wird der Ursprung von Gotheim als eine sehr lang bestehende Siedlung beschrieben, die ursprünglich von den wohl namensgebenden Goten gegründet wurde.


    Ur

    Die längste Erzählung in dem Band. Hier wird erneut der geistige Niedergang aufgegriffen, der einen in dieser Stadt ereilen kann. Hier werden 3 sehr unterschiedliche Freunde beschrieben, die später auch zu Arbeitskollegen bei einer Anwaltskanzlei in Gotheim werden. Die Freundin in der Runde wird mit der Verwaltung eines Museums betraut, das von einem Industriellen aus Gotheim gestiftet wurde. Im Laufe der Geschichte wird auch geschildert, dass ein Großteil der dort ausgestellten Kunst aus Ägypten und Syrien unter dubiosen Bedingungen entwendet wurde. Die Freundin begeht zu Beginn der Erzählung Selbstmord (ohne genauere Erklärung). Der zweite Freund wird im Laufe der Zeit durch Drogenkonsum, Studium cthulhuider Texte (hier der erste direkte Bezug zur Reihe), Beschäftigung mit alt-syrischen Göttern und den Selbstmord der Freundin wahnsinnig. Der Dritte im Bunde ist von den ganzen Gegebenheiten eher unbeeindruckt und bleibt beruflich erfolgreich.


    Tartaros

    Hier wird die Stadt aus der Sicht eines britischen Reporters beschrieben. Die Geschichte scheint in der Zukunft zu spielen, weist jedoch Parallelen zur Zeit des 1. Weltkriegs auf.


    Insgesamt ist die Beschreibung dieser Stadt im Niedergang sehr gelungen. Wie ich bereits am Anfang erwähnt habe, lebt das Buch in erster Linie von der Atmosphäre, weniger von der Handlung.

  • Ja, Tobias ist sicher der Schriftsteller, der sich im deutschsprachigen Raum am tiefsten in die Weird Fiction vorwagt. Das ist auch sein Allenstellungsmerkmal und dafür hätte er sich meines Erachtens nach auch viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Beachtenswertes Buch.

  • Sar-Sargoth : Wenn dir "Gotheim an der Ur" gefallen hat, kann ich dir noch Reckermanns Storysammlung "Rumors Fährte" empfehlen. Ist fast zeitgleich mit dem Blitz-Band erschienen, enthält ebenfalls ein paar Gotheim-Geschichten und ist mMn sogar noch etwas stärker. Laut Facebook hat Tobias auch gerade eine weitere Novelle beendet, die im Gotheim-Universum spielt... aber da kann er selbst bestimmt Genaueres dazu sagen.


    Longstride : Schickes Profilbild. Bin großer Warren Ellis und Transmetropolitan-Fan.

  • Gotheim dürfte tatsächlich binnen eines Jahres in die zweite Runde gehen, je nachdem was der Herausgeber sagt, ist es eigentlich schon fertig.


    Und ja, Spider J. Ist groß und hat für die o.g. Novelle sogar etwas Pate gestanden ;)

  • Tobias Reckermann - Gotheim an der Ur


    Die innere Finsternis

    Nach und nach versinkt das wache Bewusstsein der Einwohner der Stadt ins Unbewusste und eine äußere Kraft übernimmt ihr Bewusstsein.

    Der Protagonist und ein Besucher der Stadt sind offensichtlich die Einzigen, die es bemerken. Dem Protagonisten gelingt die Flucht in letzter Sekunde. Doch auch an dem Ort, an den er flieht, bemerkt er den Beginn dieses Prozesses.

    Eine Handlung gibt es nicht wirklich. Eher eine Andeutung bzw. eine Idee. Die Geschichte lebt von der Stimmung, die erzeugt wird. Die bedrückende Atmosphäre und die Stimmungslage des Protagonisten angesichts seiner Erkenntnisse, kommen gut rüber.


    Vorsicht auf der letzten Stufe

    Der Protagonist hat als Kind eine psychische Störung, sie ist nicht behandelbar. Es endet mit einer Tragödie. Vielleicht hat aber auch eine ungewöhnliche Art der Tiefen-Wahrnehmung, die auch eine Begabung sein könnte, wenn sie erkannt und angeleitet würde.

    Im Laufe seines weiteren Lebens lernt er sich zu tarnen, indem er Normalverhalten simuliert. Er wird Direktor einer Stahlfabrik und simuliert ein normales Leben perfekt. Das Leben in der Stadt wird politisch sehr schwierig und ein Aufstand/Krieg deutet sich an. Unter diesem Druck bricht sein psychisches System ein und er flieht aus der Stadt.

    Die Befindlichkeiten des Protagonisten sind nicht eindeutig fassbar. Ist seine Wahrnehmung tiefgründig und nimmt er Dinge wahr, die andere nicht sehen? Vielleicht hat er nicht gelernt, seine Wahrnehmung angemessen zu interpretieren und verliert sich in völlig anderen Reichen der Wirklichkeit oder des Wahnsinns, die mit der Commonsense-Realität nichts mehr zu tun haben? Diese Doppeldeutigkeit gefiel mir sehr.

    Auch diese Geschichte lebt von der düsteren Stimmung.


    Die schwarze Zitadelle

    Eine Expedition bricht auf, um die unbekannte Quelle der Ur zu finden. Es gibt parallele Ebenen. Alles ist etwas wirr und ergibt wenig bis gar keinen Sinn. Jede Menge Stimmungen, düster und unheilvoll, die sich als leere Hülsen herausstellen. Gefiel mir nicht.


    Ur

    Wieder ein Protagonist (Arno), der anfällig ist für die dunklen Seiten der Existenz. In seinen jungen Jahren besuchte er während eines Yage-Trips, den er mit einem Freund (Karl) und einer Freundin einwarf, eine alt-ägyptische Ausstellung. Hier öffneten sich bei ihm unerwartete Wahrnehmungskanäle und er hatte ein Erlebnis, das ihn traumatisierte und für den Rest seines Lebens aus der Bahn warf. Karl übersteht das Yage-Erlebnis unbeschadet und sorgt dafür, dass Arno nicht völlig ausklinkt, sondern seine Ausbildung beendet und einen Beruf antritt. Ein dramatischer Unglücksfall führt dazu, dass das alte Trauma wieder aufbricht und Arno diesem völlig hilflos ausgeliefert ist. Es kommt wie es kommen muss. Der Untergang Arnos wird sehr eindrucksvoll geschildert. Doch dies düster-dramatische Ende ist zu lang. Hier hätte der Geschichte eine Kürzung gutgetan. Hat mir aber trotzdem gut gefallen.


    Tartaros

    Ganze Städte verschwinden von der Landkarte und aus der Erinnerung ihrer Bewohner. Der Protagonist macht sich von England aus auf den Weg Gotheim zu suchen. Er findet Gotheim und gerät in den düsteren Sog, der auch in den vorhergehenden Geschichten schon beschrieben wurde. Er entkommt, aber der gesamte Kontinent scheint verloren zu sein. Eine richtige Geschichte gibt es nicht und die heraufbeschworene düster-verhängnisvolle Stimmung fand ich eher langweilig.