Ich feiere wenige Erzählungen so ab wie Jean Rays „Die Gasse der Finsternis“. Mitziehen kann da eigentlich nur noch „Der Mainzer Psalter“ – natürlich vom selben Autor.
Außerhalb
von Raum und Zeit
Worum geht’s? Ein müßiger Erzähler stöbert auf einem Kai in Rotterdam in einem Ballen Altpapier herum. Dabei fallen ihm zwei Manuskripte in die Hände: eins in deutscher, das andere in französischer Sprache. Das deutsche berichtet von mysteriösen Schrecken, die über die Stadt Hamburg hereinbrechen. Leute verschwinden spurlos oder werden von unsichtbaren Kräften gemeuchelt. Die unbekannte Verfasserin bricht ihre Aufzeichnungen abrupt ab.
Das folgende Manuskript stammt von einem Französischlehrer, der an einem Hamburger Gymnasium unterrichtet. Seine Schilderungen drehen sich vorrangig um eine Gasse, die sogenannte Bergonnogasse. Sie ist nur ihm allein bekannt und auf keinem Hamburger Stadtplan verzeichnet. Tatsächlich scheint sich die wundersame Gasse außerhalb der uns bekannten Dimensionen von Raum und Zeit zu befinden … Dort hätte sie auch bleiben können. Doch unser Lehrer – von Sorgen und Begehrlichkeiten getrieben – beschreitet die Gasse und rührt an Dingen, die besser unangetastet geblieben wären.
Was
wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean
Wie man sich denken kann, korrespondieren beide Manuskripte. Und der deutsche Text wird von dem französischen erhellt. Am Ende reist der Erzähler selbst nach Hamburg und fügt die übriggebliebenen Lücken mit eigenen Erkundigungen auf. Dennoch: die finale Antwort auf den Ursprung der Geschehnisse verweigert uns Jean Ray. Wie H. P. Lovecraft oder M. R. James konfrontiert uns der Autor mit der simplen aber bedrückenden Tatsache eines namenlosen Grauens, dem die Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Und wie bei den Genannten ist es die typisch menschliche Neugierde, die die Büchse der Pandora öffnet.
Fazit
„Die Gasse der Finsternis“ ist ein ausgezeichnetes Beispiel klassischer Weird Fiction. Die Story hantiert noch mit den bekannten Themen der Gruselgeschichte. Gleichzeitig fasst sie entschlossen die Erkenntnisse ihrer Zeit an, hier: die Theorien eines Albert Einsteins und „die Schwächen der euklidischen Geometrie“. Ein Hauch Science Fiction schwingt mit, auch wenn die Wissenschaft populär und spekulativ behandelt wird. Gut so, denn so bleibt für das Unheimliche und die Brüchigkeit unserer Erfahrungswelt genug Spielraum. Ich vergebe 5 von 5 möglichen Daumen.
Und sonst?
- Jean Ray ist das Pseudonym des Genter Autors Raymundus Joannes de Kremer (1887 – 1964). Ein anderer populärer Nom de Plume von ihm lautet John Flanders. Er schrieb auf Französisch und Niederländisch.
- Der Originaltitel der Geschichte lautet „La Ruelle ténébreuse“. Erschienen ist sie erstmals 1932 in dem Band „La croisière des ombres“.
- Die deutsche Übersetzung befindet sich im Band „Die Gasse der Finsternis“ (Bibliothek des Hauses Usher, Insel Verlag 1972 und Phantastische Bibliothek Bd. 132, Suhrkamp 1984)
- Die Zahl der Texte, die Jean Ray verfasst hat, kratzt an der 10.000er-Marke. Neben unheimlichen Erzählungen finden sich darunter Krimis für Romanhefte, Jugendliteratur, Essays und Besprechungen.
- Auffälligerweise spielen mehrere von Rays Stories in Deutschland. Neben Hamburg nenne ich Hannover und Hildesheim, den badischen Teil des Schwarzwaldes oder den fiktiven Ort Holzmünde.
- Es gibt einen Podcast zu der Geschichte, bei dem ich, wie ich mir in aller Bescheidenheit mitzuteilen gestatte, mitgewirkt habe: Sigma 2 Foxtrot Jean Ray – Die Gasse der Finsternis