Fjodor M. Dostojewskij

  • Dostojewskij ist mit Sicherheit kein Vertreter der klassischen phantastischen Literatur. Dennoch hat sein Schreiben mit Sicherheit auch diese Stilrichtung maßgeblich beeinflusst. Nicht umsonst heißt es in „Der Geschichte der russischen Literatur“ von Stendal-Petersen: „Dostojewskij fand selbst das rechte Wort zur Kennzeichnung des Realismus, den er der Literatur aufzuzwingen bestrebt war – eines so krassen Realismus, dass er an das Phantastische grenzte. Diesen Realismus erreichte er durch die Hervorhebung bisher nicht bemerkter Wirklichkeitszüge – des Geschmacklosen, des Gemeinen, des Düsteren, des Schmutzigeren, des Stinkenden, des Dumpfen, des Unanständigen -, durch ein ein so heftiges Hervorheben, dass das Wirklichkeitsbild verzeichnet und in seiner Intensität unheimlich, fast unwahrscheinlich wurde. Er erreichte diesen phantastischen Realismus, indem er von dem Gegensatz zu jener Welt ausging, die nach Turgenev Gemeinkunst der Romankunst geworden war.“

    Ich habe im SF-Fan-Forum einige Kurzrezis zu Dostojewskij verfasst. Vielleicht finden sich ja auch hier Interessierte, die sich mit mir über diesen kontroversen Schriftsteller gelegentlich austauschen wollen oder einfach nur gerne etwas über ihn lesen wollen.


    Sein wohl bekanntester Roman heißt in der deutschen Übersetzung in der Regel „Schuld und Sühne“, wobei die neueste Übersetzung von Swetlana Geier „Verbrechen und Strafe“ als Titel wählte, da er wohl dem russischen eher entspräche. Die bereits verstorbene Übersetzerin hat ja gerne die Titel geändert, so auch „Die Dämonen“ in „Böse Geister“. Natürlich wird ein wenig Marktstrategie dahinter stecken, aber ihre Begründungen in diversen Interviews, es gibt sogar eine Film über die bekannte Übersetzerin, klingen dann doch auch plausibel und wohl überlegt. Da meine Ausgabe aber aus den Anfängen der neunziger Jahre stammt, habe ich die Übersetzung von Richard Hoffman aus dem Jahre 1977 gelesen.


    Der Roman, der eigentlich ein Kriminalfall ist, erschien als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „Der russische Bote“. Der ehemalige Student Rodion Romanowitsch Raskolnikow der Jurisprudenz begeht einen Mord aus Prinzip, da die Wucherin und Pfandleiherin Alijona Iwanowna für ihn kein Recht auf ein Leben besitzt. Dennoch überschreiten Planung und Durchführung des Mordes die geistigen Kräfte des „Helden“ und er begeht fast besinnungslos Fehler für Fehler. Dennoch gelingt ihm unfreiwillig der perfekte Mord und er könnte sich der Strafe entziehen, entscheidet sich aber nach zehntägigem Martyrium zum Geständnis.


    Nebenbei werden aber so viele Dinge mit Nebenhandlungen und mit neuen Figuren vernetzt und wieder fallen gelassen, dass eine Aufzählung mich wirklich überfordern würde. Beispielsweise die entscheidende Frage, in welche Richtung Russland sich Mitte des 19. Jahrhunderts entscheidet. Folgt es dem westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystem oder den starren orthodoxen Prinzipien der russischen Kaiserzeit. Die Verelendung des Menschen, der mit der ersten Variante untergeht. Frauen, die als Ware betrachtet werden und ihren Körper als Kapital zum Überleben der Familie hingeben, sind für Dostojewskij der Endpunkt des gesellschaftlichen Verfalls. Ob man mit dem christlichen Gegenmodell des Autors letztendlich als Alternative zufrieden und glücklich ist, muss natürlich jeder auf seine Weise für sich klären. Die ganze Rücksichtslosigkeit und das offene Zeigen von zügelloser Habgier sind so deprimierend und eindrücklich, dass es mir schlichtweg den Atem geraubt hat.


    Es sind noch, wie weiter oben erwähnt, andere Punkte, die man aufführen könnte und die mich genauso beeindruckt haben wie die politischen und gesellschaftlichen Abgründe. Beispielsweise die Frage, ob der Täter, der grausam mit dem Beil zuschlägt, für Dostojewskij die Rolle des Helden übernehmen soll oder der Weg der Leugnung der entscheidende Punkt ist.


    Mein Fazit ist ganz einfach, ich muss den Roman wiederholt lesen. Es war das erste Mal, dass ich nach Beendigung einer dreiwöchigen Lektüre überlegt habe, ob ich direkt wieder von vorne beginnen soll. Kaum ein Roman hat mich so fasziniert wie „Schuld und Sühne“.

  • Ich empfehle Dir, dann gleich bei die Brüder Karamasow weiterzumachen. Für mich ist das sein wahres Opus Magnum. Und mit "Der Großinquisitor" (das es übrigens auch ausgekoppelt gibt, aber ich würde das gesamte Werk empfehlen) ist auch ein phantastischer Anteil enthalten (als Geschichte in der Geschichte).

  • Mit den "Brüdern" hast du bestimmt vollkommen recht. Aber ich wollte doch auf eine gewisse Art chronologisch vorgehen und da kommen die Karamasovs nun einmal ganz am Ende. Gestartet habe ich allerdings letztes Jahr mit "Die Dämonen". Jetzt lese ich in folgender Reiehnfolge: 1. einen der großen Romane (bin jetzt bei "Der Idiot") 2. einen der kleineren Romane 3. eine Erzählung 4. eine Biographie. Falls mir aber antiquarisch etwas dazwischen stoßen sollte, würde ich auch von dieser Systematik abweichen. Beim "Der Großinquisitor" konnte ich aber nicht warten, den musste ich schon vorher lesen, was für eine erzählerische Kraft, ich war definitiv sprachlos ...

    Beim "Idiot" tue ich mich momentan etwas schwer, zweihundert Seiten Diskussion auf einer Veranda im Pawlowsker Park ...

    Und dann kommen mir immer wieder irgendwelche neuentdeckten Perlen dazwischen ... ;)

    Aber ich werde durchhalten ...

  • Ja, chronologisch macht natürlich perfekt Sinn. Dostojevski hat halt für heutige Begriffe auch immer Längen drinnen, gerade in so metaphysischen und philosophischen Erörterungen. Aber man darf dabei nicht vergessen, aus welcher Zeit das stammt und wie revolutionär das zum Teil damals noch war. Ich wünsche Dir auf jeden Fall viel Freude auf Deiner Entdeckungsreise durch das Werk eines der größten Schriftsteller, der jemals gelebt haben.

  • Was ich mich sowohl bei Dostojevski als auch bei Tolstoi gefragt habe, ist, woher diese unbändige Liebe zum doch so grauenvollen Vaterland kam.

    Ich fand im Vergleich zu anderen Klassikern gab es bei den beiden mehr Melancholie, mehr Alkohol und mehr Spieler.

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  • Es lag an den Menschen und an der Kultur, glaube ich, das darf man in diesem Zusammenhang nicht falsch verstehen. Sie liebten das Land, sie liebten die Menschen und die reichhaltige Kultur, aber nicht das Regime und keinesfalls die Obrigkeit -- wie sie beide bewiesen haben. Das kann ich durchaus verstehen.

  • Dostojewskij hatte ja auch zwei Gesichter. Das eine vor seiner Scheinhinrichtung und seinem Straflageraufenthalt in Sibirien. Er war eher ein christlicher Sozialist, der Reformen forderte und das der Zeit danach, das sich schlagartig veränderte. Sein Patriotismus war aber auch sehr unentspannt und überaus kritisch gegenüber Einflüssen aus Westeuropa, sogar dahingehend, dass er teilweise die slawische Rasse als die bessere ansah. Auch sein Verhältnis zum Judentum kann man an manchen Stellen als sehr schwierig bezeichnen. Aber Dostojewskij an einer Sache charakterlich festzumachen, scheint bis heute nicht gelungen zu sein. Ich kenne aber die neueste Biographie von Guski nicht, der ihn aber hinsichtlich seines Patriotismus auch eher kritisch zu sehen scheint:

    https://www.fixpoetry.com/feui…tojewskij-eine-biographie

  • Dostojewskij ist mit Sicherheit kein Vertreter der klassischen phantastischen Literatur.

    Wobei man seinen Roman "Der Doppelgänger" durchaus darunter verbuchen kann.

    Das Buch kann ich übrigens jedem empfehlen, der absurde/surreale Stoffe à la Kafka, Gogol und Co. mag.

    An "Schuld und Sühne" habe ich mich allerdings noch nicht herangetraut.

  • Habe ich zu lesen begonnen – abgebrochen. Zu deprimierend. Das ging mir schon bei Knut Hamsuns „Hunger“ so. Na ja, noch ist nicht aller Tage Abend, irgendwann folgt der 2. Versuch.

    Ja, das stimmt. Ich musste ihn auch zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem ich mich nicht so wohl fühlte, unterbrechen. Ich kann auch jeden verstehen, der sich auf diese Literatur nicht einlassen möchte.

    Wobei man seinen Roman "Der Doppelgänger" durchaus darunter verbuchen kann.

    Das Buch kann ich übrigens jedem empfehlen, der absurde/surreale Stoffe à la Kafka, Gogol und Co. mag.

    An "Schuld und Sühne" habe ich mich allerdings noch nicht herangetraut.

    Auf "Doppelgänger" bin ich auch ziemlich gespannt. Eines seiner Frühwerke, die ihn auf Anhieb an die Spitze der Jungliteraten in Petersburg hievte.


    Wer von euch ein bisschen zu dem Autor stöbern möchte, hier m.E. eine exzellente Seite:

    http://www.dostojewski.eu/

  • Ich mag Dostojewski und ehrlich gestanden verstehe nicht,wie man ihn aus dem Russischen übersetzen kann. Die Sprache ist extrem schwerfällig und enthält oft die Passgen ohne Analoga im Deutschen.Richtig fantastisch ist nach meiner Kenntnis nur eine kleine Erzählung " Bobok". Die Ausländer schätzen den Autor und denken wahrscheinlich, dass Dostojewski eine Art Aushängeschild für "russische Seele" ist. Auf jeden Fall entsteht so ein Eindruck bei mir (und vielen anderen russlandstämmigen Menschen). Diese Behauptung ist sehr diskussionswürdig. Zu viele düstere Farben,die Dostojewski gern benutzt, verzerren die Realität, die ja genug kompliziert war. Es gibt und gab nicht nur ein "grauenvolles Vaterland" .

    Fragen Sie 10 Russen,ob sie auch Russland so wie Dostojewski sehen, antworten 9 mit "Nein". Wenn ich heutige Nachrichten über Russland in deutschen Medien sehe und höre, steht fest : nicht ganz saubere Politik, die dabei sehr unbeholfen und unfein ist.

    "Verbrechen und Strafe", "Gebrüder Karamasowi" sind herrliche psychologische Krimis, die ausserdem in der UdSSR genial in 60-er verfilmt wurden.

  • Crime and Punishment (Episode 1) (1970) movie



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    Sehr sehenswert!

  • Einige kleinere Sachen, die ich in den letzten Wochen in und über Dostojewskij gelesen habe. Dostojewskijs erster Roman „Arme Leute“, den man zu Gruppe der Kürzeren zählt. Das Buch behandelt die Briefpartnerschaft zwischen dem erfolglosen und wesentlich älteren Amtsschreiber Makar Devuschkin und der jungen mittellosen Varenka Dobrosjolova, die gegenüber wohnt. Obwohl Dostojewskij das schon bekannte Motiv des unbedeutenden Amtsschreibers aus Gogols berühmter phantastischen Novelle "Der Mantel" aufnimmt und auch inhaltlich bearbeitet, war dennoch die Art und Weise, mit der er sich dem gesellschaftlichen Hintergrund der armen Menschen widmet in dieser Intensität neu für die russische Literatur. Ich habe den Roman direkt nach „Schuld und Sühne“ gelesen. Dass er mit diesem Meisterwerk nicht mithalten kann, war mir natürlich klar. Dennoch kann man hier schon in Ansätzen erkennen, wie der Autor die Schattenseiten des russischen Lebens des 19. Jahrhundert genauestens betrachtet, indem er beispielsweise durch die gewählte Briefform moralische und soziale Erniedrigungen so persönlich und glaubwürdig dem Leser vor Augen führt. Ein interessanter Einblick in die Arbeit des jungen Dostojewskij.


    Meine erste gelesene Biographie „Dostojewskij“ ist die des Slawistikprofessors Janko Lavrin aus dem Jahre 1963 und diente sozusagen als Einstieg, da ich mit den Einführungen des rororo immer gut gefahren bin. Wie fast alle Biographien bildet das Buchcover das berühmte Porträt von Vasilij Perov aus dem Jahre 1872. Die einzelnen Abschnitte sind ansehnlich bebildert und ich habe das Büchlein in zwei Tagen weg gelesen. Nicht ganz so überzeugt haben mich die häufigen Betrachtungen über das jeweilige Eheleben Dostojewskijs, die man doch hätte sparsamer einsetzen können. Besonders gut dagegen, wie Lavrin das politische Geflecht der slawophilen Szene zum Ende des 19. Jahrhunderts schildert. Auch nimmt er erfreulicherweise kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die recht überzogenen Positionen Dostojewskijs zum Ende seines Lebens bezüglich der aktuellen Politik, zu dokumentieren. Die Wandlung Dostojewskijs vom sozialen Christen zum patriotischen Monarchisten wird kritisch hinterfragt und durchaus auch für zweifelhaft gehalten, wenn Dostojewskij z. B. im Jahre 1873 für den ultrakonservativen Verleger Fürst Meschtscherskij arbeitet.

    Ein überaus gelungener Einstieg in das Leben und Werk Dostojewskijs, der wenig wissenschaftliche Ansprüche stellt, aber unbedingt zu unterhalten weiß.



    Nicht ganz so überzeugend fand ich Dostojewskis erste Erzählung „Herr Prochartschin“ (1846). Wiederum ein Porträt eines kleinen missachteten Mannes, der sich aus Geiz buchstäblich zu Tode hungert. Im Grund wird nur die Szene genauer beleuchtet, wie die Mitbewohner des Hauses auf sein Sterben reagieren. Ganz nett, aber m.E. keine Meisterleistung.



    Doswidanja,

    Wrong



  • Wrong Vielen Dank für diese ausführliche Vorstellung. Ich bin gespannt, was noch kommt!


    Leider liegt meine eigene Dostojewskij-Lektüre zu lange zurück, um stichhaltig mitreden zu können. „Der Idiot“ habe ich vor fast 25 Jahren gelesen – und gerne gelesen. Was mir, aufgrund mehrfacher Lektüre (als Hörbuch) ganz gut in Erinnerung ist, ist „Der Spieler“. Dann: „Das Krokodil“, was vor nicht allzu langer Zeit in einer schicken Neuausgabe herauskam. Allerdings bin ich für Satiren oder Grotesken nicht allzu sehr zu haben.


    Bereuen tue ich es bis heute, dass ich vor Urzeiten eine Single (7 inch) verschenkt habe: Klaus Kinski liest aus „Schuld und Sühne“ (Der Traum des Raskolnikoff) – sehr beeindruckend.