British Library Tales of the Weird
Vielleicht am ehesten das Pendant zu der Bibliotheca Dracula, wenn auch ohne deren Zeitdukumente und Sachtexte. Eine 2018 gestartete Serie, die wenig veröffentlichte bzw. schwer zugängliche phantastische Kurzgeschichten und Novellen einer Reihe berühmter und unbekannter bzw. inzwischen vergessener internationaler Autoren herausbringt, wobei der Schwerpunkt wohl auf UK & USA liegt.
Die Bücher haben wirklich interessante Themenschwerpunkte (z. B. die ‚böse Botanik‘ mit Killerpflanzen), hübsche 80er Jahre Retro-Cover und tolle s/w Frontispitzseiten, sehr informative Vorworte sowie auch interessante, detailreiche Intros zu den einzelnen Verfassern und ihrer Geschichten (teils zu spoilernd). Die Herausgeber sind offenbar jeweils in irgendeiner Form Experten zum Thema oder dem Genre, der Ära. Die Bände sind sehr preiswert (neu um die € 10,-) und haben ein schönes Schriftbild, sind aber von wirklich grottiger Qualität: Cover sind billigste Pappe, die leicht verschrammt und selbst bei sorgsamster Handhabung verknickt; das matte Cover wirkt schnell fleckig, und ich hab mich kaum gewagt, die Bücher genügend weit aufzuschlagen, weil sie sich anfühlen, als könnten bald die Seiten rausfliegen (was allerdings bisher nicht passierte).
Insgesamt ein verträgliches Preis-Leistungs-Verhältnis. Ich habe zwei back-to-back in einem Rutsch durchgelesen und werde mir ganz sicher noch ein paar zulegen.
Mike Ashley (ed.): From the Depths and Other Tales of the Sea
London 2018. 316 Seiten
15 Geschichten aus den Jahren 1891–1932
Mike Ashley schreibt selbst Phantastik (v.a. SciFi), ist einer der Experten zur Geschichte der Populärliteratur und Berater für die British Library Science Fiction Classics und hatte bei dieser Auswahl ein wirklich gutes Händchen. Bis zum letzten Fünftel dachte ich, es gäbe keine einzige Geschichte, die ich nicht als herausragend oder zumindest sehr gut ansah. Ganz zum Schluss fand ich die (nicht-chronologisch) geordneten Stories aber tendenziell einfallslos und müde, auch tritt – durch die Entwicklung hin zu Dampf- und Motorschiffen – der seemännische Aspekt mit Naturbeschreibungen und Fachwissen immer weiter zurück, bis das Setting nahezu beliebig und teils unglaubwürdig wird (bes. Elinor Mordaunt: „The High Seas“). Anders als die Tattoo-Geschichten sind dies alles tatsächliche Grusel- bzw. Horrorstories.
Besonders herausragend fand ich die beiden ersten Geschichten:
Albert R. Wetjen: „The Ship of Silence“ (1932) und Morgan Robertson: „From the Darkness and the Depths“ (1913); sowie Herman Scheffauer: „The Floating Forest“ (1909).
Da sind sowohl klassischer Grusel, wie auch wirklich innovative, frische Plots und Themen/Ideen, absolut tolle Beschreibungen der Natur und der Schiffe, wie auch, soweit ich das beurteilen kann, seemännischer Sachverstand. Eine Story konnte ganz nebenbei eine Fachfrage klären, die mir nicht einmal Segelschiffkapitäne beantworten konnten (warum damals als Notmaßnahme vor einem Sturm das stehende Gut gekappt wurde, um die Masten brechen zu lassen, wovon ich eigentlich dachte, dass es konterproduktiv sein müsste).
Robertson wurde berühmt durch seine prophetischen Geschichten, vor allem die grandiose Novelle Futility, or The Wreck of the Titan, die – mehr als ein Dutzend Jahre vor dem Unglück veröffentlicht – die Schicksalsfahrt und den Untergang der Titanic im Detail zu beschrieben scheint. Auch diese Geschichte ist gespickt mit wissenschaftlichem Fachwissen zu Photographie, Strahlung und Optik.
Wetjens Story erinnerte mich vom Aufbau her stark an „Die Affenpfote“, weil – wie es gleich im ersten Satz heißt – die äußerst schräge und wirklich schauderhafte Geschichte keine Auflösung erfährt, man aber keinen Zweifel hat, es hier mit paranormalem Schrecken zu tun zu haben. Brillant gelöst, psychologisch stimmig und wirklich innovativ.
Die Sammlung ist äußerst vielschichtig und hat wirklich mehr zu bieten als simple Geisterschiffe und 'skeleton crews', absolut empfehlenswert.
John Miller (ed.): Tales of the Tattooed – An Anthology of Ink
London 2019. 317 Seiten
13 Geschichten aus den Jahren 1882–1952
John Miller ist Dozent für die Literatur des 19. Jahrhunderts an der Universität Sheffield mit Schwerpunkt Late Victorian und Edwardian era, bes. deren Sozialgeschichte. Zu Tattoos hat er wohl einen Crashcourse gemacht, seine Literaturangaben sind recht chaotisch (Sachbücher und Moby Dick) und auch wenn er einige Einsicht gewonnen hat, sitzt er falschen Klischees auf; meint wohl, die Tätowierung in Europa hätte mit Cook angefangen und verfängt sich fatalerweise in Strömungen der frühen 90er (Feminist, Post –Colonial Studies, politischer Dekonstruktivismus), die alles, was weiß/männlich/Mittelklasse ist gegen The Other stellt, was bei diesem Thema einfach grober Unfug ist.
Die Geschichten sind eine schöne Zusammenstellung, in denen Tattoos mal mehr, mal weniger eine zentrale Rolle spielen, allerdings kann man nur zwei davon guten Gewissens als Weird/Phantastik bezeichnen: es geht dort um prophetische Träume und Vorahnungen sowie eine unglückliche Transplantation, eine andere dreht sich noch um reale/lebende Doppelgänger ohne wirklich Paranromales. Alle weiteren sind psychologische Sozial- oder Crime-Stories, zwei davon hard boiled (die einzigen, die ich nur überflogen habe), in denen zwar ein paar seltsame Zufälle oder Außernseiter, aber nix wirklich Schräges oder gar Gruseliges vorkommt. Die meisten davon – vor allem die älteren – waren dennoch recht nette Unterhaltung.
Ausgesprochen positiv sticht für mich eine einzige Geschichte heraus: Jun'ichirō Tanizaki: „The Tattooer“ (1910).
Ein – ungewöhnlich sadistischer – Tätowierer sticht eigentlich nur Männer, ist aber auf der Suche nach der perfekten Frau für sein Meisterwerk. Nach neun Jahren Suche findet er ein Mädchen, betäubt sie und tätowiert ein ungewöhnliches Motiv auf ihren Rücken. Die Implikationen von Macht/Ohnmacht und Gewalt/Opfer laufen aber völlig anders, als man von dieser Synopsis erwarten könnte. Der Autor war für den Nobelpreis nominiert, aber auch wegen seiner Themen um Fetischismus und BDSM zu Kriegszeiten zensiert. Die Geschichte ist ungeheuer dicht, atmosphärisch, ungewöhnlich wie auch sehr modern, und erinnerte mich – von der eigenartig mystischen „Technik“ wie auch dem Lust/Schmerz-Aspekt her – an den Film Irezumi (ist aber weniger konservativ), wie auch wegen der leicht surrealistisch-sadistischen Note an Octave Mirbeaus The Torture Garden. Die kurze Story allein war den Kauf wert.
Die Sammlung spiegelt sehr gut die Diskrepanz zw. dem ‚stummen vs dem verbalisierten Diskurs‘ wider: Tätowierte sprechen nicht über ihre Hautbilder, Schreibende sind untätowiert. Es gibt Autoren mit Hautbildern: z. B. Kathy Acker und China Miéville; soviel ich weiß kam bei ihnen das Schreiben vor dem Stechen, aber deren Fiktion dreht sich um andere Themen. Ich würde mich selbst nennen – bei mir kam das Inken zuerst und ich schreibe das (negativ konnotiert) auch in phantastischen Geschichten, aber dafür bin ich ein viel zu kleines Licht. Wer aber Lust auf eine kurze Geschichte der Tätowierung in Europa hat, hier History of Tattooing in Europe.pdf ein unveröffentlichter Artikel (engl.), den ich mal für ein finnisches Jugendsegelmagazin schrieb. Sorry für die Eigenwerbung, aber das Thema wie auch Tattoos selbst sind seit über 30 Jahren mein Steckenpferd.