Robert Edric: The Wrack Line
Hornsea, UK 2016, PS Publishing. Gebunden, 95 Seiten
Ein Mann möchte sich nach einem Burn-out für einige Wochen zurückziehen und nimmt das Angebot eines Bekannten an, dessen abgelegenes Strandhaus zu bewohnen. Er kommt spätabends an, der Taxifahrer weigert sich aus fadenscheinigen Gründen, ihn direkt zum Ziel zu fahren, und am nächsten Tag stellt der Erzähler fest, dass die Feriensiedlung verlassener ist, als angenommen: er ist der einzige Bewohner, einige Häuser sind bereits im Verfall begriffen. Auch war ‚entlegen‘ keine Übertreibung: das nächste Dorf liegt eine knappe Stunde Fußweg entfernt und dem Erzähler fällt es zwischen Dünen und Wald schwer, die Orientierung zu behalten.
Auch das Dörfchen hat bessere Zeiten gesehen, hier stehen ebenfalls Häuser leer und in dem einzigen geöffneten Laden spricht niemand mehr als das Nötigste mit ihm. Versorgt mit gutem Essen und einigem Alkohol richtet er sich in seinem Haus ein, unternimmt lange Spaziergänge und genießt die Einsamkeit. Dabei merkt er, dass er selbst von maßvollem Trinken in seltsam lethargische Wach-Traum-Zustände verfällt, jedes Zeitgefühl verliert und bald sicher ist, dass ein bedrohlicher Fremder um sein Haus schleicht. Tags sieht er von weitem eine Frau am Strand, die auf etwas zu warten scheint, doch sie reagiert nicht auf sein Rufen und verschwindet dann spurlos im Wald.
Dem Erzähler gelingt es, zwei kommunikationsfreudige Dorfbewohner zu finden: die Teenage-Tochter der Ladenbesitzerin und einen alten, kranken Witwer, der ein privates Archiv über das Dorf angelegt hat und zögerlich Dunkles aus dessen Geschichte zu erzählen beginnt. Vor über 20 Jahren ist hier ein Kind verschwunden, die Mutter kam Jahr um Jahr an den Ort, um nach ihm zu suchen – bis ihre Besuche eines Tages ausblieben. Der Erzähler ist bald überzeugt, in der Fremden am Strand diese Mutter zu erkennen …
Typisch für viele von Edrics Erzählungen stehen auch in The Wrack Line ein Mann mittleren Alters, der ausgebrannt ist und keine Perspektive sieht, sowie Isolation und Entfremdung im Zentrum. Auch hier ist das Setting eine Siedlung / Landschaft, in der Zukunftspläne aussichtslos geworden sind und die ihre Bewohner in Lethargie oder Depression erstickt (ähnlich wie in The Earth Made of Glass, Gathering the Water, The Broken Lands, Salvage). Wieder zieht sich das Thema ‚enttäuschte Hoffnungen‘ wie ein roter Faden durch die Novelle: der Erzähler selbst, der zwischen seiner offenbar zerstörten Karriere und einer unsicheren Zukunft in einem alb/traumartigen Niemandsland versinkt; die Feriensiedlung, die seit Jahrzehnten restauriert werden soll und doch dem Verfall preisgegeben ist; die Dorfbewohner, die vom Leben in der Stadt träumen und doch den Absprung nicht schaffen; der Witwer, der seine Frau nicht loslassen kann und – lediglich impliziert – der Geist (?) der Mutter, die hofft, ihr Kind wiederzufinden.
Dies ist das erste mir bekannte Buch von Edric, das wirklich im klassischen Sinne richtig gruselig ist und sein Setting voll ausspielt: die Isolation und die verlassene Siedlung, bei der ich sofort Urbex-Expeditionen und Photos von ‚Abandoned XY‘ im Kopf hatte, der nächtliche Besucher und diese wirklich toll beschriebene Stimmung zwischen Halluzination und Zeitlosigkeit, die immer am Rande ist, den Erzähler zu einem unzuverlässigen zu machen. Die wie üblich sehr langsame Erzählweise Edrics verstärkt dies alles konsequent und brachte mich beim Lesen in eine ähnliche Stimmung wie den Erzähler.
Was das Buch aber definitiv nicht ist: die im Klappentext angekündigte Horrorgeschichte, die „ganz klar in der Tradition von M. R. James und Algernon Blackwood steht“. Da ich Edric grundsätzlich mag, hat mich das nicht gestört, aber ich muss einfach mal massiv spoilern: Die Novelle ist der mAn einzige postmoderne Vertreter der Gothic-Linie des ‚Horror‘ bzw. des Sublimen, in der Landschaft und Gebäude für tragische Erlebnisse bzw. Emotionen stehen, in der aber das Übernatürliche wegerklärt wird. Das allein fand ich – obwohl mich das Ende irritiert hat – schon extrem spannend. Edric entscheidet sich hier, für das unausgesprochen Übernatürliche keine rationale Erklärung anzubieten, allerdings nimmt der Plot in dem Moment, in dem man den Abschluss der implizierten Gespenstergeschichte erwartet, eine scharfe Kurve raus aus dem paranormalen Thema in ein rein weltlich-reales, und somit hängt das – durchaus tragische – Ende seltsam abrupt, zusammenhanglos und unbefriedigend in der Luft.
Ein Dank auch an den Gestalter des Covers, der offenbar das Buch nicht gelesen hat und so wie ich 'Wrack' als 'Wreck' las: Im Buch kommen keine Boote oder Schiffe vor. 'Wrack' bedeutet (das musste ich selbst nachschauen) nicht nur Schiffswrack, sondern allgemein Verfallenes / Aufgegebenes, und so passt der Titel, aber nicht das hübsche Bild zum Inhalt.
Ich habe von der Novelle eine Sammlerausgabe geschenkt bekommen und werde meine (neu gekaufte) gegen Porto oder eine Ökoschkolade zum Verschenken anbieten, sobald das Buch eingetroffen ist.