Thomas Ligotti ist (fast?) ausschließlich ein Autor von Kurzgeschichten, ich hatte noch nie etwas von ihm gelesen, aber er wird allenthalben in höchsten Tönen gelobt - es bot sich also an, für diese Kategorie der Lesechallenge einen Kurzgeschichtenband von ihm zu wählen. Und so ist es dann dieser Band aus dem Festa-Verlag von 2015 geworden. Das Original stammt von 1991, wurde aber 2011 noch einmal überarbeitet, und diese überarbeitete Version liegt diesem Buch zugrunde (frühere Übersetzungen wurden entsprechend bearbeitet).
Nach einer düster gestimmten Einleitung mit der Herleitung des Namens GRIMSCRIBE (also der grimmige Schreiber) geht es mit den Geschichten los. Sie sind in fünf Rubliken eingeteilt, jeweils DIE STIMME von irgendwem.
DIE STIMME DER VERDAMMTEN
Das letzte Fest des Harlekins
Eine deutliche Hommage an Lovecraft, ist diesem auch gewidmet. Der übliche Gelehrte, hier ein Anthropologe mit einem Faible für Clowns, kommt in eine Kleinstadt zu einem Winterfest und muss entdecken, dass hinter dem offiziellen Fest ein finsterer Kult verborgen ist. Das Ganze hätte genauso von Lovecraft geschrieben sein können (Kann man als Kompliment betrachten, oder auch nicht).
Die Brille im Geheimfach
Diese Geschichte klingt etwas mehr nach Poe. So ganz klar wird hier nicht, wer die beiden Männer sind, warum der Eine den Anderen "heilen" möchte, und was die Brille zu versprechen scheint, habe ich auch nur vage verstanden. Die Geschichte lebt ganz von ihrer Atmoshäre und ihrem nicht sonderlichen zuverlässigen Erzähler mit der leicht irren Erzählstimme.
Ab jetzt wurde etwas schwer für mich, die nächsten fünf Geschichten waren schon eine ziemliche Durststrecke für mich.
Blumen des Abgrunds
Keine Ahnung, wer hier imitiert wird, in dieser Fantasie über den Wahnsinn der Dinge, geschrieben in einer ausladend lyrischen Sprache; möglicherweise ist es als Anlehnung an Baudelaires Blumen des Bösen gedacht, würde auch das Fehlen einer wirklichen Handlung erklären.
Nethescurial
Diese Geschichte hätte mich fast dazu gebracht, das ganze Buch abzubrechen. Es geht mal wieder um einen uralten Kult auf einer Insel, ein zerbrochenes Idol und der furchtbaren Wirklichkeit, die sich hinter dem Schein der Welt verbirgt, aber wie das beschrieben wird ... Als ob Ligotto dem Leser genau erklären wollte, worauf er beim Schreiben von Geschichten mal so keine Lust hat.
DIE STIMME DES DÄMONS
Träumen in Nortown
Wieder etwas besser, aber auch wieder das Übliche, zwei Männer, die aus unerklärlichen Gründen irgendwelche obskuren Dinge tun. Und vor allem sehr viel träumen. Und hinter der Wirklichkeit liegt wieder ... Wie immer.
Die Mystiker von Mülenburg
In dieser Geschichte fasst Ligotti wohl seine Weltsicht zusammen: "Obwohl die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen – und wir werden unablässig daran erinnert, dass dem so ist –, muss trotzdem eingestanden werden, dass ausreichend viele von uns diese Wahrheit ignorieren und so die Welt vor dem Zusammenbruch bewahren." Er versucht nun zu zeigen, was passiert, wenn es nicht gelingt, diese Täuschung aufrechtzuerhalten (lange Dämmerung, lange Nacht ...), aber warum bricht die Täuschung zusammen, und warum im Allgemeinen sonst nicht? Und warum funktioniert die Sache plötzlich wieder? Und warum muss diese Wahrheit hinter der Fassade nun so furchtbar sein? Woran macht er das genau fest, dass es "das Böse" ist, was dort lauert? Das wird immer nur behauptet, nie gezeigt.
Im Schatten einer anderen Welt
Und wieder die gleiche Geschichte, zwei Männer treffen sich, gemeinsame okkulte Interessen, einer beobachtet den Untergang des anderen. Allerdings fand ich die Geschichte mit dem Haus und seinen Fenstern sehr gelungen geschrieben.
Die Kokons
Endlich mal ein wenig anderes Setting. Ein Mann zweifelt offenbar an der Realität um sich herum (wie neu ...) und ist deswegen in Behandlung. Doch der Therapeut meint es nicht wirklich gut mit seinem Patienten und möchte ihn als Wirt zum Ausbrüten außerirdischer(?) Larven verwenden.
DIE STIMME DES TRÄUMERS
Die Abendschule
Dieses Mal ist die Wahrheit hinter dem Schein offensichtlich eine eklige Kloake. Trotzdem finde ich diese Geschichte sehr gelungen, einfach weil sehr schön aus der Perspektive des Ich-Erzählers heraus berichtet wird.
Der Zauber
Diese Geschichte hat mir jetzt wirklich gefallen. Ich fand es zwar etwas nervig, dass der Erzähler immer wieder darauf hinwies, dass er in diesem Teil der Stadt zuvor noch nie gewesen ist, und irgendetwas will Ligotti mit dieser Litanei wohl ausdrücken, ... Endlich mal eine wieder eine Geschichte in dem Band, die das Lesen gelohnt hat.
DIE STIMME DES KINDES
Die Bibliothek von Byzanz
Und der Lauf geht weiter. Diese Geschichte hat mir sogar noch besser gefallen als die vorige. Prinzipiell gestehen Ligottis Protagonisten ihren Träumen und Visionen eine unglaubliche Bedeutung zu, so ist der Junge hier überraschend überzeugt davon, dass seine hellseherischen Visionen über den Priester echte Tatsachen wiedergeben; allerdings ist es andererseits bei einem Autor, der derart an der Realität zweifelt, nicht verwunderlich, dass tatsächliche Begebenheiten und Träume vom Wahrheitsgehalt her als gleichberechtigt angesehen werden. Das Unbehagen, das der Priester auslöst, wenn er sich dem Jungen mit seiner Faszination für die "Erlösung durch Leiden" nähert, die geheimnisvolle Bibliothek und ihre dunklen Wächter. Bis jetzt tatsächlich mein Favorit.
Miss Plarr
Auch diese Geschichte hat mir durchaus gefallen. Die neue Haushälterin fasziniert den Jungen, allerdings nicht aus den Gründen, die man bei jedem anderen Jungen vermuten würde, sondern natürlich, wie sollte es bei Ligotti anders sein, weil sie etwas von der wahren Welt hinter dem Schein spürt und letztendlich sogar auf einen Übergang dorthin stößt. Allerdings kann man bei dieser Geschichte eine sexuelle Entschlüsselung des Ganzen nicht völlig von der Hand weisen. Wie dem auch sei, oder wohl auch gerade wegen einer gewissen Ambiguität, eine sehr lohnenswerte Geschichte.
DIE STIMME UNSERES NAMENS
Der Schatten am Grund der Welt
Die letzte Geschichte des Bandes fasst noch einmal Ligottis Manie von der wahren Welt hinter dem Schein zusammen, auch wiederholt er Mülenburg, diesmal mit einer Jahreszeit, die nicht enden will, aber deutlich interessanter mit Vogelscheuche und wahnsinnigem Scherenschleifer und passend dazu perfekt geschliffener Prosa.
Fassen wir es mal so zusammen, Ligotti ist nicht meine Tasse Tee. Seine Prosa ist zweifellos meisterhaft formuliert, aber schon darin liegt (für mich!) eine entscheidende Schwäche: Niemmand kann in seine Geschichten eintauchen, dem Leser werden ständig sprachliche Ornamente um die Ohren gehauen, die ihm stets bewusst machen, dass hier ein Autor mit seinen Formulierungskünsten protzt. Das ist mir jetzt aus den zwei letzten Geschichten noch so im Gedächtnis (eben weil ich sie gerade gelesen habe): Einmal erzählt ein heranwachsender Junge, einmal ein Farmer, aber beide werfen mit Satzkonstruktionen und Wortgebilden um sich ...
Außerdem ist Ligottis Welthass und Ekel wirklich unerträglich. Da ist jedes Gemetzel und Blutbad optimistischer, einfach weil die Opfer davon überzeugt sind, dass es doch schön wäre, noch mal davonzukommen.