William H. Hallahan: Das Stilett

  • phantastik-literatur.de/index.php?attachment/463/


    William H. Hallahan: Das Stilett

    München, 1975. Wilhelm Goldmann Verlag. 320 Seiten

    Original: The Search for Joseph Tully (1974), Übersetzung: Gisela Geisler


    Der Klappentext umreißt die Geschichte schon wunderbar: „Das winterliche Brooklyn. Ein Haus, das auf den Abbruch wartet. Seine Bewohner ziehen einer nach dem anderen aus, zuletzt bleibt nur noch der Journalist Peter Richardson übrig. Ihn halten Erinnerungen an glücklichere Tage in dem alten Haus zurück, aber auch seltsame Erlebnisse, die ihn in seiner Einsamkeit heimsuchen, Wahnvorstellungen, Albträume. Sie deuten unmissverständlich auf kommendes Unheil, und eigentlich müssten sie ihn in wilde Flucht jagen. Doch die nahende Katastrophe lähmt ihn (…).“


    Nicht nur das Haus wird immer menschenleerer, sondern das ganze Viertel: nach und nach werden die Häuser der Straße von der Abrissbirne zerstört, und auf der Straße ist nachts niemand mehr unterwegs. Richardson hört öfter neben sich ein Geräusch, als ob ein Golfschläger geschwungen würde, und irgendwann ist sein Nachbar und Freund Clabber spurlos verschwunden, Clabbers Wohnungstür steht offen. Auch im Keller stehen öfter Türen offen, die Richardson – als letzter Bewohner – ganz bewusst verschlossen hatte.


    In einem Parallelstrang wird die Geschichte eines Engländers namens Willow erzählt, der quer durch die USA reist, um den Stammbaum der Familie Tully zu erforschen – dabei geht es ihm besonders um einen Joseph, der um 1720 eine Familie gegründet hatte und ein streng-protestantisches Leben in einer extrem isolierten Ansiedlung führte, die keine Früchte trug und in Hunger und Armut endete. Geradezu besessen versucht Willow herauszufinden, wer die Nachkommen der vier Tully-Söhne waren und ist immer seltsam erleichtert, wenn er feststellt, dass eine der Erbfolgen erloschen ist.


    Während Willow trotz seiner recht manischen Recherche ein bodenständiger Mensch ist, bewegt sich Richardson – ansonsten ein Ottonormalverbraucher – in recht bohèmen, exzentrischen Kreisen: sein bester Freund ist ein weiterer Hausbewohner, Clabber, ein ehemaliger Priester, der sich selbst exkommunizierte, extrem asketisch lebt und in okkulten Zirkeln verkehrt. Auch Richardson lässt sich gerne zu Teestunden mit Tarotlesungen und waschechten Séancen einladen, zumindest bis ihm die vage-übernatürliche Bedrohung aus seinem Haus dorthin zu folgen scheint.


    Das Stilett war nach unzähligen klassischen Gespenstergeschichten / Gothic Tales der erste Roman, den ich aus der modernen dunklen Phantastik gelesen habe, und ich hab es seitdem sicher vier- oder fünfmal wiedergelesen. Wegen des extrem grausamen Intros hatte mir meine Mutter sogar als einziges Mal je geraten, das Buch nicht in die Hand zu nehmen, bevor ich nicht meinte, für sowas bereit zu sein. Ich ließ es also mit 9 Jahren stehen, las es dann mit 11; und kann auch aus heutiger Sicht ihre Warnung gut verstehen.


    Hallahan baut seine beiden Plotstränge extrem klug auf und schafft über die Unsicherheit, wie diese zusammenhängen könnten, eine echte Thrilleratmosphäre; dabei wird alles eher atmosphärisch als reißerisch-temporeich erzählt. Obwohl ich das Setting in dem winterlichen, verlassenen Viertel wirklich außerordentlich gruselig finde, steht die Brutalität des Intros eher als Damoklesschwert über den Protagonisten, als dass solche Szenen wiederholt würden. Und es passt zu diesem ‚supernatural Thriller‘ auch wesentlich besser, dass der Schrecken eher subtil entwickelt wird.


    Hallahan war selbst stark an Esoterik und Mystik interessiert, was diesem Buch sicher zugute kommt. Alle anderen seiner Romane fand ich grauenhaft schlecht, zudem – was dem Stilett vollkommen entgegengeht – viel zu ernsthaft esoterisch und auch mit zu viel christlicher Metapher (gute vs böse Engel etc.). Das waren: Keeper of the Childen, The Monk, und die Politkrimis Catch Me, Kill Me und Foxcatcher – ich hab’s also wirklich versucht.


    Interessanterweise ist auch das englische Original des Stiletts stilistisch banal und bar jeder Spannung – das ist so ähnlich wie Suhrkamps Lovecraft-Übersetzungen auch aus den damals zu Tode editierten Weird Tales Versionen gute Literatur machten. Als Hobby-Historiker schrieb Hallahan noch ein sehr interessantes, unglaublich detailreiches Sachbuch über die Zeit seines Joseph Tully: The Day the American Revolution Began. 19th April 1775. Das hat wegen der Lebensumstände der Siedler wirklich etwas Horrorhaftes, ist allerdings ziemlich dröge geschrieben. Dazu gibt es einen zweiten Band (The Day the Revolution Ended), den ich aber nicht mehr gelesen habe.


    Fazit: Vermutlich auch meiner Nostalgie geschuldeten 10 von 10 Punkten