Alexander Grin: Wogengleiter
Mit einem Vorwort von Leonid Borissow
Phantastische Bibliothek 274. Suhrkamp Taschenbuch 1830. Frankfurt a. Main 1991
218 Seiten
Ein Schiff, von dem es heißt, dass es auf dem Meeresboden von zwei Riesen namens „Geheimnis“ und „Ausdauer“ erbaut worden sei (unter Mithilfe der Handwerker „Hammerhai“ und „Sägefisch“), muss ja wohl seinen Weg in unsere Herzen finden. Weil mir die erste Lektüre schon so gut gefiel, habe ich Alexander Grins „Wogengleiter“ nun zum zweiten Mal gelesen – wieder begeistert.
Inhalt: Und ewig lockt das Geheimnis
„Wogengleiter“ ist die Geschichte des empfindsamen Thomas Harvej, der krankheitsbedingt eine Reise unterbrechen muss und in der Hafenstadt Lissa landet. Dort verguckt er sich ebenso in die schöne Bice Seniel wie in ein prachtvolles Segelschiff, den „Wogengleiter“. Wie kann es sein, dass das luxuriös ausgestattete Fahrzeug für einfache Frachtfahrten genutzt wird? Harvej wittert ein Geheimnis.
Obwohl Kapitän William Gaes scheinbar ein Ekel ist, bucht Harvej für teures Geld eine Passage auf dem Wogengleiter nach Gel-Gju. Erwartungsgemäß gerät er auf See mit Gaes aneinander … und gelangt nur unter Schwierigkeiten an sein Ziel.
In Gel-Gju herrscht ausgelassener Karneval. Inmitten des bunten, maskenhaften Treibens löst Harvej das Rätsel um den Wogengleiter. Mehr noch: Er findet sich im Schnittpunkt dreier Frauen wieder (Bice Seniel ist eine von ihnen), wird in einen erbitterten lokalpolitischen Streit und außerdem noch in einen Mordfall hineingezogen.
Am Ende hat Harvej sein Verlangen nach dem Geheimnisvollen befriedigt. Auch die Sehnsucht nach Liebe erfüllt sich. Dieser versöhnliche Ausgang bleibt dem Wogengleiter freilich verwehrt. Wie nebenbei, aber unüberhörbar, wird auch das tragische Schicksal des Schiffes zu Ende erzählt.
Meinung: Es muss ja nicht immer alles düster sein
Was ist dieses Buch? Eine Romanze, ein Abenteuerroman, eine Seefahrergeschichte und nicht zuletzt ein Krimi. Ebenso pflegt Grin bekannte Topoi der Phantastik: In einer kurzen Binnenerzählung wird etwa eine Lösung des Rätsels um das Gespensterschiff „Mary Celeste“ angedeutet!
Harvej ist ein im besten Sinn naiver Held – er lässt sich ohne zu zögern aufs Abenteuer ein und hat die wunderbare Fähigkeit, intuitiv auf die Begebenheiten zu reagieren. Die Stimmung des Buchs ist durchweg positiv, licht, – vielleicht eher Fantasy denn unheimliche Phantastik. Dazu trägt auch Grins künstliche Geografie bei, denn Städte wie Lissa, Dagon oder Gel-Gju entspringen der Imagination (ohne aber völlig aus der Luft gegriffen zu sein).
Hinter seinen Vorbildern – die wohl Herman Melville, Joseph Conrad oder Jack London heißen – braucht sich Alexander Grin nicht zu verstecken. Mit seinem William Gaes hat er die maritime Literatur um einen weiteren zwielichtigen Kapitän bereichert.
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