Hanns Heinz Ewers: Nachtmahr. Seltsame Geschichten
Georg Müller. München 1922
363 Seiten
Alles, nur nicht 08/15
„Seltsame Geschichten“ oder „Sonderbare Geschichten“ – das war vor rund 100 Jahren eine gängige Charakterisierung von Werken fernab der deutbaren Erfahrungswelt. Diese Beschreibung wurde nicht nur auf die phantastische Literatur angewendet. Sie betraf beispielsweise auch die Darstellung religiösen Wahns, komplizierter Seelenzustände oder abartiger Neigungen.
Vereint finden wir all diese Phänomene in den Geschichten und Romanen Hanns Heinz Ewers’. Namentlich in dem 1922 erschienene Erzählband „Nachtmahr“, der sich eben mit dem Untertitel „Seltsame Geschichten“ schmückt. Dies sind im Einzelnen:
„Die Hinrichtung des Damiens“
Ein 18-Jähriger verliebt sich Hals über Kopf in die Frau seines Gastgebers, eines englischen Landedelmanns. In der Sache an sich recht tolerant, warnt der Engländer den Jüngling vor der Gattin, die ein Geheimnis umgibt. Tatsächlich erhört die Herzensdame schließlich den jungen Mann, kann jedoch nur durch ein bizarres Stimulans in amouröse Stimmung versetzt werden.
— Eine übergeordnete Handlung, in der einige grausige Beispiele aus dem Tierreich (Stichwort „Gattenmord“) präsentiert werden, rahmt die Story ein, die sich ihr unappetitliches Geheimnis erfolgreich bis zum Schluss bewahrt.
„Der Fall Petersen“
Vor einem New Yorker Gericht wird ein Prozess gegen den aus Dänemark eingewanderten Lars Petersen geführt. Letzterer hatte sich als Musiklehrer verdingt und ein 12-jähriges Mädchen umgarnt, wobei „zwischen ihnen ein intimer Umgang stattgefunden“ hat. Richter Henry Taft McGuff ist ohnehin gegen Ausländer eingestellt und nutzt die Verhandlung, um ein rigides Einwanderungs-Gesetz voranzutreiben.
— Langatmige, anti-amerikanische Erzählung, die aufgrund der deutlichen Parteinahme für Petersen irritierend wirkt.
„Der schlimmste Verrat“
Eine kleine Landgemeinde in Illinois. Der Totengräber Stephe, der es im Leben nicht wagt, eine Frau anzusprechen, kümmert sich herzallerliebst um die ihm anvertrauten Toten. Bis er sich dann schließlich doch einmal in eine Lebende verliebt. Als das Mädchen von der Spanischen Grippe dahingerafft wird, frohlockt Stephe – denn so kann er der Dame schließlich doch noch habhaft werden. Denkt er zumindest …
— Wenn gar nichts mehr geht, Nekrophilie geht immer!
„Höchste Liebe“
Obwohl der Geiger Hagen Dierks erfolgreich konzertiert, fehlt ihm etwas Entscheidendes, das seiner Kunst den letzten, großartigen Schliff gibt. Verschiedene Glücksbringer, die er ausprobiert, bleiben ohne Wirkung. Da schmuggelt ihm ein (sogenannter) Freund einen morbiden Fetisch unter, der den Musiker zur Höchstleistung anspornen soll. Der Trick funktioniert. Als Dierks den Grund für seinen Erfolg erfährt, ist er tief bestürzt … und weiß doch nicht, dass der angebliche Glücksbringer gar so machtvoll ist, wie er annimmt.
— Ein Lehrstück über die trügerische Macht des Aberglaubens.
„Die Typhusmarie“
Marie Stuyvesant ist nach Brioni gereist, wo sie sich unvermittelt mit einem Tribunal konfrontiert sieht. Ihre selbsternannten Richter sind 7 Herren, die ihr vorwerfen, „ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft!“ zu sein. Nach Anhörung der ihr vorgeworfenen Vergehen, schwingt sich Marie zu einer glänzenden Verteidigungsrede auf. Der Scheinheiligkeit überführt, ziehen die Herren der Schöpfung schließlich kleinlaut den Schwanz ein. Übrig bleibt nur ein Unbelehrbarer, der sich anschickt, das nächste Opfer der „Typhusmarie“ zu werden.
— Ein Lieblingsthema von Ewers: Was ist Moral und wer darf sich ihrer bedienen?
„Die Juden von Jêb“
Um 400 v. Christus. Der greise Jedonja ist das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde auf der im Nil gelegenen Elefanteninsel. Die jüdischen Krieger der Festung Jêb stehen im Dienst der Perser, die Ägypten beherrschen. Sehnsüchtig wartet Jedonia auf einen Boten aus Jerusalem, der ihm die Erlaubnis bringen soll, den vor einigen Jahren zerstörten Jahwe-Tempel wiederaufzubauen. Eine Prophezeiung will es nämlich, dass man erst dann erfolgreich der ägyptischen Befreiungsbewegung die Stirn bieten kann, sobald nur der Grundstein für den Tempelbau gelegt wurde. Der Bote kommt endlich und bringt Neuigkeiten aus Jerusalem … wo mittlerweile ein anderer religiöser Geist herrscht als auf der Insel im Nil.
— Eine der gelungensten Erzählungen des Buchs, die wohltuend auf vordergründige Effekte und ostentative Absonderlichkeiten verzichtet.
„Meine Mutter, die Hex“
Dr. Kaspar Krazykat schreibt an seinen Bruder. Er bittet ihn inständig, die kurz bevorstehende Hochzeit unbedingt platzen zu lassen. Der Grund: Ihre Mutter sei eine Hexe – und Kaspar befürchtet, dass sich das Hexenwesen in den zu erwartenden Kindern des Bruders und der Schwägerin in spe fortsetzen könne. Ein Antwortschreiben der letzteren lässt nicht lange auf sich warten, – fällt allerdings anders aus, als erhofft.
— Wenn Ewers hier auch auf manche Zauberdinge zu sprechen kommt, erscheint die amüsante Geschichte doch mehr grotesk denn phantastisch.
Fazit
Hanns Heinz Ewers’ interessanter Lebenslauf ist hinlänglich bekannt, eine Beschäftigung mit seinen Aktivitäten und Initiativen nach wie vor lohnenswert. Das Sensationelle, das seinen Geschichten zu Lebzeiten anhaftete, kann uns heute allerdings nur noch schwer aus der Reserve locken: Die erzählerischen Mittel in „Nachtmahr“ sind begrenzt, die Themenauswahl ist auch nicht viel breiter gefächert. Allein die historische Erzählung „Die Juden von Jêb“ und „Meine Mutter, die Hex“ (mit autobiografischen Anspielungen!) werfen ein gutes Licht auf Ewers’ Einfallsreichtum. Bei ihm muss man immer sagen: Er konnte, – wenn er wollte! Leider hat er manch launischen Einfall über Gebühr strapaziert. Auch dafür gibt der vorliegende Band ein beredtes Beispiel ab.