Peter Rosei - Wer war Edgar Allan?

  • Axel wies im Thread "Leseliste der Werke des Genres Horror und unheimliche Phantastik nach 1945 im deutschsprachigen Raum" auf dieses Buch hin:


    Zitat

    Ich möchte noch zwei Werke anführen, die in die Kasack-Richtung gehen ("Die Stadt hinter dem Strom", s. o.), also Sachen, die eher im Feuilleton denn im Fandom rezipiert werden (oh mein Gott …):


    1. Peter Rosei: Wer war Edgar Allan? (1977). Der Spiegel schreibt in einer zeitgenössischen Besprechung (53/1977):

      "… der nachtmahrische Venedig-Roman des Österreichers Peter Rosei mausert sich zum Erfolgsbuch" und:

      "… ein literarisches Vexier-Spiel: ein Krimi im Stil der satanischen Romantik, mit ihren Doppelgängern und Schimären, nachtmahrischen Erfahrungen und der Angst, in all dieser Unheimlichkeit sein Ich zu verlieren, an sich irre zu werden."


    Nach diesem Hinweis hatte ich Lust auf das Buch bekommen und besorgte mir eine antiquarische Ausgabe (Residenz Verlag, Salzburg, 1977).


    Im Urteil ist dem "Spiegel" insgesamt beizupflichten. Wir treffen auf einen studentischen Protagonisten, der sich einst aus Pflichtgefühl der Medizin verschrieben hatte, später aber zur Kunstgeschichte wechselte und - ausgestattet mit einer kleinen Erbschaft - nach Venedig ging, um dort gleichsam sein Italienisch zu erproben. Eingeführt wird die "Handlung" (schwierig, es so zu nennen) als retrospektiver Bericht dieses ehemaligen Studenten, der sich dabei auf Briefe und Tagebücher berufen will. Allerdings gerät dieser Plan bald aus den Fugen, es mehren sich die Berichte über Drogen- und Alkoholexzesse dieses wenig strebsamen Studiosus. Statt die Hinterbank im Hörsaal zu drücken, taumelt dieser lieber des Nachts durch die Billigschänken der Renaissancestadt. Dabei dreht sich mehr oder weniger alles um die Frage: Wer ist bzw. war Edgar Allan?


    Tatsächlich breitet Rosei hier ein veritables "literarisches Vexier-Spiel" aus, dass in einer wilden Mischung an Stilmitteln daher kommt. Die Zeitebenen werden - je nach vermeintlicher Quelle des Erzählten - wild durcheinander geworfen. Konkrete Szenenschilderungen wechseln mit Gedanken, Träumen, Assoziationen, Zitaten. Wörtliche Rede gibt es nicht, alles ist Teil eines soghaften Erzählstroms. Rosei peitscht die suggestive Kraft der prosagedichtartigen Novelle durch hermetische Fragmente voran, seine Sprache atmet und zieht mit. Venedig weht als düster-verkommene, nach allen Sinnen tastende Kulisse durch den Text. Durch den geheimnisvollen Edgar Allan, dessen Präsenz eher paranoides Zerrbild scheint und somit zu psychoanalytischen Betrachtungen reizt - dieser Edgar Allan bringt Elemente einer kolportagehaften Kriminalhandlung ein, die aber nie recht ausbuchstabiert wird und bei der noch mehr unklar bleibt als beim eigentlichen "Narrativ" des Textes.


    Dazwischen streut Rosei immer wieder Bezüge zu Edgar Allan Poe ein, vor allem Zitate aus "Hop Frog" und "The Pit and the Pendulum" geistern dem wirren Erzähler durchs Bewusstsein. Hat der angeblich in Venedig lebende Edgar Allan etwas mit dem Dichter zu tun? Was macht dieser in Schänken und Cafés lungernde Mensch genau? Spannend, wie Rosei seine Erzählung an Fragen orientiert, die für sich gesehen keine echte Substanz haben, deswegen aber nicht irrelevant sind.


    Ich vermag "Wer war Edgar Allan?" von 1977 nicht recht einzuordnen. Ein wahrlich rauschhafter Sprachmix, der in die 70er Jahre passt. Assoziativ, dekadent-expressionistisch, hermetisch - pure Sprachkunst. Rosei spielt sicherlich mit den bis heute gängigen Populärbildern zur Person Poes und lässt sich von diversen literarischen Quellen zu einem Experiment überreden. Der Protagonist erscheint als durchgeknallte Variante des Baudelaire'schen Flaneurs. Keine genuine Phantastik, aber einzelne Szenen sind so stark in ihrer die Realität brechenden Stoßrichtung, dass die Lektüre durchaus lohnt.


    Es gibt aus den 80er Jahren auch einen Film von Michael Haneke, der aber leider nicht auf DVD verfügbar zu sein scheint.

    "The amount of weird material I have not read is appalling"


    HPL to CAS, 1925

    Einmal editiert, zuletzt von Nils ()

  • Tatsächlich breitet Rosei hier ein veritables "literarisches Vexier-Spiel" aus, dass in einer wilden Mischung an Stilmitteln daher kommt. Die Zeitebenen werden - je nach vermeintlicher Quelle des Erzählten - wild durcheinander geworfen. Konkrete Szenenschilderungen wechseln mit Gedanken, Träumen, Assoziationen, Zitaten. Wörtliche Rede gibt es nicht, alles ist Teil eines soghaften Erzählstroms. Rosei peitscht die suggestive Kraft der prosagedichtartigen Novelle durch hermetische Fragmente voran, seine Sprache atmet und zieht mit.

    (...)

    Spannend, wie Rosei seine Erzählung an Fragen orientiert, die für sich gesehen keine echte Substanz haben, deswegen aber nicht irrelevant sind.


    Wow, vielen Dank für die ausführliche Besprechung (die möglicherweise spannender ist, als das Buch selbst).


    Das klingt alles sehr nach einem Roman, der mir wirklich gefallen könnte. Ich bin Fan von dialogarmen Erzählungen (und Filmen), und von ungewöhnlichen Strukturen / Perspektiven. Glücklicherweise hab ich das Buch in der Deutschen Bibliothek Helsinki entdeckt, und werde es bald mal ausleihen.


    Haneke mag ich, und mit der 'Unbeschaffbarkeit' scheinst du leider recht zu haben - ich hatte auch aufgrund des Alters des Films gehofft, dass er auf YT steht, aber nix da.

  • Das klingt nach einem recht ansprechenden aber eben auch anstrengenden Lesestoff.

    Das kann man sagen.



    Wow, vielen Dank für die ausführliche Besprechung (die möglicherweise spannender ist, als das Buch selbst).

    Bitte - ich hoffe aber um des Buches Willen, dass deine Einschätzung nicht zutrifft. :D

    Das klingt alles sehr nach einem Roman, der mir wirklich gefallen könnte. Ich bin Fan von dialogarmen Erzählungen (und Filmen), und von ungewöhnlichen Strukturen / Perspektiven. Glücklicherweise hab ich das Buch in der Deutschen Bibliothek Helsinki entdeckt, und werde es bald mal ausleihen.

    Ich bin auf eine Einschätzung gespannt. Und dass das Buch bei dieser Einrichtung vorrätig ist, scheint mir eine bemerkenswerte Info zu sein.


    Haneke mag ich, und mit der 'Unbeschaffbarkeit' scheinst du leider recht zu haben - ich hatte auch aufgrund des Alters des Films gehofft, dass er auf YT steht, aber nix da.

    Ja, sehr schade. Vielleicht gelangt man einmal an eine TV-Aufnahme.

  • Das Buch hat tatsächlich vor Kurzem eine Neuauflage erfahren...

    Danke für die Info, Nils. Ich hab es mir mal auf die Liste gesetzt. Deine Vorstellung klingt ziemlich interessant.


    Katla Hast du das Buch schon gelesen?

  • Ich hab es mir mal auf die Liste gesetzt.

    Ich bin auf deine Eindrücke gespannt. Leider scheint die Neuauflage kein Vorwort o. ä. zu beinhalten, was ich immer schade finde.



    Das Forum ist schon wie die Geschichte mit dem Hase und dem Igel: Egal, welches Buch veröffentlicht oder wiederveröffentlicht wird – hier existiert bereits ein Thread dazu …

    Ich hatte genau den gleichen Gedanken. Ich vermute, das Forum wird überwacht, sodass man sich Programmtipps stibitzen kann.

  • Cheddar Goblin Dear Goblin, huch, das hatte ich vollkommen aus dem Blick verloren. Irritierenderweise ist es inzwischen aus dem Katalog der Stadtbibliothken verschwunden. :(

    Danke für die Erinnerung, also! Grad ist mein Sub zu hoch, um mir das zu beschaffen, aber wie schön, dass dieser Thread wieder lebt.