Anselma Heine – Die Erscheinung (Novelle)

  • Wer ein überzeugendes Beispiel für die künstlerische Überlegenheit der Novelle sucht – hier ist es: Die Erscheinung von Anselma Heine (1855 – 1930). Die ebenso packende wie grauenvolle Geschichte erschien 1912 in Buchform.



    Anselma Heine: Die Erscheinung. Egon Fleischel & Co. Berlin 1912. 94 Seiten

    Inhalt

    Der Ingenieur Dr. Arnold Riedhammer hat einige Jahre im Auftrag einer deutschen Maschinenbaugesellschaft auf den Marshallinseln zugebracht. Nach Beendigung seiner Aufgabe ist er auf dem Weg zurück nach Deutschland. Er, der bisher kaum Interesse für die Damenwelt aufbrachte, verliebt sich auf dem Dampfer in eine junge Niederländerin: Johne Stevens hat ihren Mann verlassen, trägt aber noch den Ehering.


    In Port Said empfängt der Ingenieur eine Einladung zur Weltausstellung nach Paris. In Begleitung von Johne reist er über Marseille in die französische Hauptstadt. Beide quartierten sich – in unterschiedlichen Zimmern – im selben Hotel ein.


    Als er am nächsten Tag zu der Geliebten will, findet er sie nicht. Ihr Zimmer erkennt er kaum wieder. Im Hotel weiß man von nichts. Von der Sûreté führt ihn sein Weg erst aufs deutsche, dann aufs niederländische Konsulat. Dort bescheinigt ihm ein Arzt, krank zu sein und rät Paris sofort zu verlassen. Ergebnislos kehrt Riedhammer schließlich zurück in seine thüringische Heimat. Als veränderter Mann – „Wunderlich geworden, da drüben in den Tropen“, meinten die Leute (S. 92) – vergräbt er sich in den Schriften alter Mystiker. Was aber wurde aus Johne Stevens?

    Zitat

    Die Geschichte hatte damals einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht; die Bosheit der unterirdischen Geister, die den Menschen zu Tode äffen – etwas unsäglich Peinigendes lag für ihn in alledem. (S. 21)

    Eindruck

    Johne Stevens, die Passive, strahlt etwas Übersinnliches aus. War sie für für Arnold Riedhammer wirklich nur – eine Erscheinung? Der Tatenmensch aber mit seinen Besitzansprüchen – „Ich habe dich mir aus dem Meer heraufgebetet. Du gehörst mir.“ (S. 34) – steht dem Schicksal hilflos gegenüber. Unvergesslich bleibt, wie hier das junge, fragile Liebesglück auseinandergerissen wird.


    Die Sache läuft ab ohne Verbrechen, ohne Gewalt, ohne Spuk und Zauber. So unwahrscheinlich und doch nicht an den Haaren herbeigezogen ist Johne Stevens Verschwinden – dass eben darin das Grauenvolle liegt … es könnte ja möglich sein!

    Fazit

    Die Erscheinung von Anselma Heine atmet noch ganz den Geist des Fin de Siècle. Alles greift ideal ineinander: das Exotische, das Mondäne, das Mysterium. Erst bei wiederholter Lektüre erschließen sich die feinen psychologischen Untertöne und die wie zufällig hingestreuten Spuren, mit der die Autorin das spektakuläre Ende vorbereitet. Eine Lektüre, die wunschlos glücklich macht. Fünf von fünf Schemen.


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    Wissenswertes

    Die zugrunde liegende Ausgabe erschien 1912 bei Egon Fleischel & Co., Berlin (Leinen, 94 Seiten). Der Text ist als moderner Nachdruck erhältlich, wohl basierend auf dem frei zugänglichen Eintrag auf dem Projekt Gutenberg. Es gibt eine Verfilmung aus dem Jahr 1919: Als eine von vier Episoden wurde Die Erscheinung adaptiert für die Unheimlichen Geschichten unter der Regie von Richard Oswald.



    Still aus: Unheimliche Geschichten/„Die Erscheinung“ (1919)

    Links

    Projekt Gutenberg Anselma Heine Die Erscheinung: https://www.projekt-gutenberg.…ea/erschein/erschein.html

    Wikipedia Unheimliche Geschichten (1919): https://de.wikipedia.org/wiki/Unheimliche_Geschichten_(1919)



    Die Schriftstellerin Anselma Heine

  • Ich bin nun mit der langen Erzählung durch.


    Eine schön romantische und sehr plastische Darstellung mit einem total überraschenden Ende. Mehr sage ich nicht,um den Spaß nicht zu verderben.


    Es gehört eindeutig zu den Perlen der deutschsprachigen dunklen Prosa.Anthologieherausgeber ! Aufgepasst!


    Und stark cinemaverdächtig.


    Zum gedruckten Buch kann ich nicht so viel Gutes sagen.


    Die Broschüre zählt ca. 32 Seiten (weniger als im Original. Es kann natürlich am Buchformat liegen). Sie erinnert an eine Gebrauchsanweisung zu einem teuren Staubsauger. Das Büchlein wurde im Ausland ( in "gewaltigem" Zypern) produziert und hat leider viele peinliche Druckfehler. Dafür zahlt man 13 Euro (inkl.Versand).


    Ich bereue es trotzdem nicht,weil die Erzählung zu gut und in Papierform ist.

  • Danke für deine Vorstellung! Ich musste da einfach zugreifen.

    Es klingt interessant!

    Danke für den Hinweis!


    ich habe das Buch bei Amazon für 13 Euro bestellt.

    Bei Thalia gibt es auch eine Fassung für 10 Euro. Die Geschichte ist sauber auf 30 Seiten und zwei Zeilen gedruckt. Danach folgen noch gut 10 Leerseiten, damit das Buch als 40seitig beworben werden kann. Mal sehen, ob die Geschichte wirklich so reichhaltige Denkanstöße bietet, dass ich den Platz für Notizen benötige.

  • Ich habe gesehen, dass es noch eine ältere Weltgeist-Ausgabe gibt, aktuell für 7,33 Euro bei booklooker angeboten. Die würde ich einem modernen Nachdruck immer vorziehen. Damit ist ja hier im Forum noch nie jemand richtig glücklich geworden.


    Mal sehen, ob die Geschichte wirklich so reichhaltige Denkanstöße bietet, dass ich den Platz für Notizen benötige.

    Würde mich allerdings tatsächlich interessieren. Ohne Notizen geht bei mir gar nichts mehr, – alles andere betrachte ich mittlerweile als verschenkte Lektüre.


    Eine schön romantische und sehr plastische Darstellung mit einem total überraschenden Ende. Mehr sage ich nicht,um den Spaß nicht zu verderben.


    Es gehört eindeutig zu den Perlen der deutschsprachigen dunklen Prosa.Anthologieherausgeber ! Aufgepasst!

    Freut mich, dass dir die Story gefällt! Sicher, der Text wäre es wert, in einer schönen Form wieder veröffentlicht zu werden.

  • Ganz großen Dank, Axel, für diese Empfehlung. Habe mir auch eine dieser modernen Schrottversionen geholt (schrecklich). Ich bin wirklich geplättet, wie gut diese Erzählung ist. Meiner Meinung nach übertrifft sie in jeglicher Hinsicht einen sehr großen Teil englischer Schauergeschichten um ein Vielfaches, die alle gleich scheinen und oft etwas Belangloses an sich haben. Mich beeindruckt insbesondere alles, was um die eigentliche Story herum geschrieben ist. Die Stimmung sehr profund beschrieben. Diese Schiffsfahrt, die teils schrägen anderen Passagiere - das alles kommt unglaublich sicht- und spürbarbar rüber. Mich hat das ein bisschen an den Zauberberg von Thomas Mann erinnert. Und die Geschichte an sich ist ebenfalls wundervoll angelegt.

  • Ganz großen Dank, Axel, für diese Empfehlung.

    Vielen Dank auch für diese Rückmeldung – es freut mich wirklich, dass die Novelle Anklang findet. Ich war mir unsicher, ob ich sie hier vorstellen sollte; es handelt sich doch wohl eher um Mystery als genuine Phantastik. Andererseits geht es hier ja nicht engstirnig oder hartherzig zu … :)


    Da auch die verschiedenen Versionen zu Sprache kommen, hier ein Bild der ursprünglichen (verschwenderischen) Satzanordnung. So erklärt sich denn vielleicht auch die 94 starke Seitenzahl. Ich finde, Inhalt und Textform sind hier sehr gut aufeinander abgestimmt (auch wenn manche/r heute vielleicht einwenden würde, dass die Zeilen zu kurz laufen. Doch gerade das hält zu einem eher ruhigen Lesetempo an, wie es eben die Geschichte erfordert).


  • Sehr spannende Vorstellung und Diskussion, vielen lieben Dank, Axel! Arkham Insider Axel

    Das klingt so gut, dass ich den Onlinetext nicht anclicke, sondern mir nach deinem Hinweis das Buch bestellt hab. Ich verfolge diesen Faden interessiert, aber das hat's jetzt zusätzlich gerissen:

    Meiner Meinung nach übertrifft sie in jeglicher Hinsicht einen sehr großen Teil englischer Schauergeschichten um ein Vielfaches, die alle gleich scheinen und oft etwas Belangloses an sich haben. Mich beeindruckt insbesondere alles, was um die eigentliche Story herum geschrieben ist.

    Das klingt - wie Axels Rezension - wirklich super, ich bin sehr gespannt. (Hoffe allerdings leise, dass es mich nicht an Thomas Mann erinnert.) :)

    Ich habe gesehen, dass es noch eine ältere Weltgeist-Ausgabe gibt, aktuell für 7,33 Euro bei booklooker angeboten.

    [Cof] Danke auch für diesen Hinweis. Hatte erst gezögert, weil dort vermutlich eine falsche Jahresangabe steht (2017), was aber schon allein von Verlag, Leineneinband, Schrifttyp und Coverfoto her nicht hinhauen kann.

  • Das klingt - wie Axels Rezension - wirklich super, ich bin sehr gespannt. (Hoffe allerdings leise, dass es mich nicht an Thomas Mann erinnert.)

    Oh, auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen; die Befürchtung ist aber (hoffentlich) unbegründet. Warten wir mal dein geschätztes Urteil ab! [Cof]

  • Keine Sorge wegen Thomas Mann. Ich habe von Mann nur den Zauberberg gelesen (freiwillig) und den bisher auch nur halb (lese immer nur ein Kapitel und wieder was anderes). Was ich mit meinem Vergleich sagen wollte, war, dass Frau Heine sich nicht nur allein auf die Story konzentriert sondern auch sehr viel ungewöhnliche Atmosphäre drum herum schafft. Wie gekonnt und lebenserfahren sie das darstellt, dass hat mich halt an die besten Stellen des Zauberbergs erinnert. Ist bei Frau Heine aber frei von Langeweile und Geschwafel.