Gänsehaut garantiert
Hrsg.: Johannes Thiele
Weltbild Buchverlag, Augsburg 2005
Antiquarisch erhältlich
Titel und Cover dieser Anthologie wirken ja auf den ersten Blick wenig originell. Zu den Stories sei auch gleich gesagt, dass sie aus verschiedenen Sammlungen zusammengeklaubt sind; also mal wieder so ein „Aggregator“ …
Ich will aber nicht geunkt haben, denn nach der Lektüre zeigt sich, dass Herausgeber Johannes Thiele bei der Auswahl (größtenteils) ein gutes Händchen
bewiesen hat. Vom mittleren 19. Jahrhundert bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert ist ein repräsentativer Querschnitt durch das Gebiet des Unheimlichen entstanden. Bei den Quellenangaben hätte ich mir mehr Sorgfalt gewünscht (engl. Originaltitel von mir eruiert); auch ein Vor- oder Nachwort wären fein gewesen. Fazit: Wer sich den Titel antiquarisch für kleines Geld besorgt, macht sicherlich nichts verkehrt.
Richard Matheson: Die Beute (Prey)
Amelia steckt fest
zwischen ihrer herrischen Mutter und der erblühenden
Bekanntschaft zu Arthur. Letztere steht auf der Kippe, weil die
Mutter die Tochter eifersüchtig vereinnahmt. Als wäre das nicht
Ungemach genug, hat Amelia für Arthur einen afrikanischen
Geister-Fetisch aus einem Kuriositätengeschäft erworben: die
Statuette eines Jägers. Einmal ausgepackt, erwacht der Jäger zum Leben und beginnt mit einem Küchenmesser Jagd
auf Amelia zu machen. Dümmliche Slasher-Story, die „Chucky
– Die Mörderpuppe“ und
Konsorten vorwegnimmt.
Ohne
Grusel, Witz und Pfiff. Gähn …
Eleanor Scott (Pseud. f. Helen Madeline Leys): Die Gestalt am Strand (Celui-là)
Der
überstrapaziert Maddox erhält von seinem Hausarzt den Rat, Urlaub
in einem Ort an der bretonischen Küste zu machen. Urige Heidelandschaft, funkelnder Sternenhimmel und der menschenleere
Strand bestimmen das Bild. Menschenleer – bis auf eine seltsam
vermummte Gestalt, die Maddox dazu bringt, ein Kästchen aus dem Sand
auszubuddeln. Darin: eine in einer Mischung aus Altfranzösisch und
Latein gehaltene Formel, die der
Finder sogleich zu
deklamieren anfängt …
selbstverständlich
mit unangenehmen Folgen. Die
Story ist
eine Hommage an
M. R. James’ Kultklassiker „Oh,
Whistle, and I’ll
Come
to You, My Lad“. Für mich
eine schöne Entdeckung dieser nicht allzu
populären Autorin, die von 1892 bis 1965 lebte.
Pamela Sargent: Die alte Finsternis (The Old Darkness)
Nächtlicher
Stromausfall in einem Mehrparteienhaus. Befreundete Mieterpaare
finden sich in einer
Wohnung ein, um gemeinsam die Nacht auszuharren. Es sind die Frauen,
die zuerst eine unerklärliche Angst empfinden … und richtig:
unvermittelt machen sich telekinetische Kräfte bemerkbar und sorgen
für Unruhe. Bedenklicher
als die aus dem Regal fliegenden Bücher sind allerdings die
Zwistigkeiten, die jetzt
unter den Paaren entstehen. Eine verderbliche,
uralte Macht bricht
sich dank des Stromausfalls
Bahn!
Eindringlich schildert die
Autorin die sozialen Konflikte unter den Betroffenen. Leider geraten
ihr dabei die finsteren
Triebkräfte etwas aus dem Blickfeld. In
puncto unheimlicher
Atmosphäre wäre sonst
durchaus noch mehr drin gewesen.
Gary Brandner: Jeder Dämon hat seinen Preis (The Price of a Demon)
Eine
gelangweilte Hausfrau kauft ein Buch mit magischen Beschwörungsformeln und
wendet
dieselben an.
Daraufhin beginnt ein unsichtbarer Dämon sie zu peinigen. Die Frau
und ihr Ehemann stehen dem Phänomen ratlos gegenüber. Abhilfe
schafft eine moderne
Hexe, die einen weiteren Zauber beschwört, der den ersten bannt. Was
freilich auch nicht folgenlos bleibt … Einfallsloser Versuch,
alte Magie in einem neuzeitlich-urbanen Milieu zu verorten. Tendiert
in Richtung „Burn,
Witch,
Burn!“
(Abraham Merrit), „Conjure
Wife“ (Fritz Leiber) usw.
– nur viel unspektakulärer.
Robert Aickman: Herz und Hand (Hand in Glove)
Wie
flickt man ein gebrochenes Herz wieder zusammen? Das ist das Thema dieser originellen Geistergeschichte. Sie handelt von zwei
Freundinnen, von denen eine (Millicent) jüngst mit ihrem Freund
(Nigel) Schluss gemacht hat. Die andere (Winifred) schlägt einen
Ausflug aufs Land vor, um erstere zu zerstreuen. Dabei geraten die
beiden Frauen auf einen verwaisten Kirchhof, der auf unheimliche Art
und Weise mit Millicents Liebesunglück in Beziehung steht; mehr
noch: Scheinbar bietet sich hier die einzigartige Möglichkeit, Nigel
endgültig aus ihrem Leben zu verbannen! Typische Aickman-Story,
deren ironischer Ton nicht über die bedrohliche Doppelbödigkeit
hinwegtäuschen kann, auf der sich seine Protagonisten bewegen.
E. F. Benson: Der Wunschbrunnen (The Wishing-well)
Ein
Highlight! Benson nimmt uns mit nach St. Gervase, einem
gottverlassenen Ort im Hinterland von Cornwall. Hier, fern der
Hauptstraße, herrscht unter den Einwohnern noch der alte Hexen- und
Zauberglaube. Der Pfarrer studiert diese Phänomene, freilich auf
rein wissenschaftlicher Basis. Seine Tochter, Judith – eine
40-jährige Jungfer –, erhält dabei Einblicke in diese Studien.
Sie versucht, ihr okkultes Wissen in einer Herzensangelegenheit
anzuwenden … An dieser raffiniert gemachten Story hätten sich
Richard Matheson und Gary Brandner ein Beispiel nehmen
sollen! Bei Benson ist Zauberei kein lächerlicher Jack-in-the-box
oder beliebiges Formelwerk aus alten Büchern, sondern: ein tief in
der lokalen Tradition verwurzeltes Phänomen, schwer zu begreifen und
zu handhaben und im schlimmsten Fall ein brandgefährliches Werkzeug.
H. P. Lovecraft: Das Ding auf der Schwelle (The Thing on the Doorstep)
Warum
hat der Erzähler seinem besten Freund Edward Pickman Derby sechs
Kugeln durch den Kopf gejagt? Mit Derby war, nachdem er sich zu
ausgiebig gewissen okkultistischen Lehren hingegeben hatte, eine
schreckliche Veränderung vorgegangen … Dies gesagt, ist natürlich
noch lange nicht die ganze Abgründigkeit der Story auf den Punkt
gebracht, die zum offiziellen Lovecraft-Kanon gehört. Wir haben
alles hier, wofür der Autor gerühmt wird: die von einer finsteren
Vergangenheit heimgesuchte Stadt Arkham, unergründlich-tiefe Wälder,
verstörende Kulte und Riten sowie einen ruchlosen Hexenmeister, der
sich über den Tod hinaus Geltung verschaffen will – auf Teufel
komm raus!
E. A. Poe: Das verräterische Herz (The Tell-Tale Heart)
Ein Klassiker, dessen Vorstellung ich mir aus Platzgründen sparen muss, die Bewertung ist immerhin eindeutig:
Bram Stoker: Das Geheimnis des wachsenden Goldes (The Secret of Growing Gold)
Zwei
alteingesessene Familien drohen auszusterben. Da tut sich die Frau
der einen Familie mit dem Mann der anderen zusammen. Sie leben in
einem eheähnlichen Zustand, allerdings nicht besonders friedlich.
Schließlich verschwindet die Frau unter mysteriösen Umständen, der
Mann heiratet kurz darauf eine Andere. Der Bruder der Verschwundenen
sinnt auf Rache. Doch hat er die Rechnung ohne seine Schwester
gemacht … Die Schauermär aus der Feder des Dracula-Autoren
verzichtet weitgehend auf Dialoge und wirkt dadurch recht statisch.
Das hier zugrunde liegende Rache-Thema mag nicht weltbewegend neu
sein; was es aber mit dem „wachsenden Gold“ auf sich hat, ist
allemal der Lektüre wert.
Friedrich Gerstäcker: Der Dreizehnte
13
Männer haben sich zu einer ausgelassenen Silvester-Gesellschaft
zusammengefunden. Zur dampfenden Punschbowle gesellt
sich ein Würfelbecher. Man beschließt zu ermitteln, wer das
kommende Jahr nicht überleben wird. Die niedrigste Augenzahl
bestimmt den Todeskandidaten. So wird der Club „Die Dreizehner“
geboren, der auch in den folgenden Jahren jeweils am Silvesterabend
die makabre Nagelprobe durchführt. Ohne echten Grusel zu erzeugen,
spannt Gerstäcker hier einen lang anhaltenden
Spannungsbogen, – denn natürlich will man wissen, ob die Würfel
recht behalten. Aus dem Geist der Bowle erwachsen Ahnung, Angst und
Abhängigkeit. Am Ende steht die psychologisch interessante Frage
nach der sich selbst erfüllenden Prophezeiung im Raum – die der
Autor klugerweise nicht eindeutig beantwortet.
Anne Rice: Freniere
Eine Episode aus Rices 1976
erschienenem
Roman „Interview with the Vampire“ („Gespräch
mit einem Vampir“).
Der blutgierige
Vampir Lestat hat es auf den Sprössling der
Pflanzer-Familie Freniere aus New Orleans abgesehen. Dieser aber hat sich zu einem Duell
hinreißen lassen – steht also ohnehin an der Schwelle des Todes.
Die Story wird aus der Sicht des Vampirs Louis erzählt, der sich
hier als Gegenspieler Lestats und
Menschenfreund (er ernährt sich angeblich nur von Tierblut) geriert.
Am Ende ist es auch
Louis, der den Frenieres
einen großen Dienst erweist. Dieser
verhalten dramatische Text ist nicht ganz ohne Reiz, sollte aber
gerechterweise nur im Zusammenhang mit dem Roman bewertet werden.
W. L. George: Im Wachsfigurenkabinett (Waxworks)
Henry
hat die Konzertkarten vergessen – seine Freundin Ivy ist nicht begeistert. Was tun mit dem angebrochenen
Tag? Das Paar beschließt, sich die Hafenanlagen im Londoner East End
anzuschauen. Dabei geraten sie in das Wachsfigurenkabinett der Mrs.
Groby: ein Ort der modellierten Schrecken … der (wie könnte
es anders sein) nur noch von der Realität übertroffen wird! Die
Story aus der Feder von Walter
Lionel George (1882 –
1926)
birst
nicht vor Originalität, ist aber aufgrund einiger liebenswerter
Details für einen 15-minütigen Aufenthalt an der Haltestelle
oder im Wartezimmer akzeptabel.
J. G. Ballard: Zone des Schreckens (Zone of Terror)
Der Name J. G. Ballard ist Science-Fiction-Fans natürlich ein
Begriff. Daher erscheint er an dieser Stelle vielleicht ein bisschen
unerwartet. Macht aber nichts, denn die Story um einen ausgebrannten Programmierer, der zur Erholung (buchstäblich) in die
Wüste geschickt wird, kommt durchaus unheimlich daher. Ballard
traktiert seinen Protagonisten mit einer unkonventionellen
Geistererscheinung am hellichten Tage – und haucht diesem altbekannten Phänomen
dadurch neues Leben ein. Ein lesenswerter Mix aus Psychogramm, Ghost
Story und Science Fiction.